© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

Kinder der Hypermoral
Das Reklame-Deutsch der Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, enthält bösartige und gefährliche Botschaften
Thorsten Hinz

Wem die folgenden Sätzen wohl entschlüpft sind: „Da gibt es nicht mehr Atomkraftwerke und Kohlekraftwerke, die laufen durch, sondern wir haben volatile Energie, das heißt, Wind ist nur, wenn Wind weht, logischerweise, und Sonne ist nur, wenn die Sonne scheint, wir haben Grundlast durch Biomasse, und wir haben, und das ist neu, äh, das ist auch interessant für Start-ups und Unternehmen, zum Beispiel Rechenzentren, große Supermärkte, die dann als Energieerzeuger in den Markt reinkommen.“ Stammen sie von einer Abiturientin, die in der mündlichen Physikprüfung zu kaschieren versucht, daß sie von Tuten und Blasen keine Ahnung hat? Oder von einem Komiker, der die Propaganda zur Energiewende verballhornt? Oder handelt es sich um die Aussage einer grünen Kanzlerkandidatin, die sich anschickt, die Politik und insbesondere die Energieversorgung der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt völlig neu zu ordnen?

Unverkennbar ist das die Diktion der Grünen- Spitzenfrau Annalena Baerbock (40). Wäre die Äußerung anläßlich eines journalistischen Überfalls zwischen Tür und Angel gefallen, wäre sie verzeihlich gewesen. Doch fielen sie in einer Maischberger-Talkshow, in der Baerbock sich als Kanzlerkandidatin vorstellte. Sie mußte damit rechnen, zu ihrem Herzensthema befragt zu werden, und hätte sich entsprechend vorbereiten können. Doch zu dieser Anstrengung war sie offenbar nicht in der Lage.

Noch nie war in einer der zahlreichen Erklärungen Baerbocks ein Kompetenz- und Befähigungsnachweis zu entdecken. Ihren Höhenflug hat das nicht aufgehalten, im Gegenteil. Sie sei frisch, fröhlich, unbefangen, sie verkörpere ein neues Denken, und gerade ihre Erfahrungslosigkeit in politischen Ämtern mache sie geeignet, um im wichtigsten politischen Amt der Republik unkonventionelle Wege einzuschlagen. „Endlich anders“, jubelte der Stern auf der Titelseite, und auf dem Spiegel-Cover posierte sie als „Die Frau für alle Fälle“. 

Es reicht nicht, über den ungewollten Sexismus und die Realsatire in diesen Schlagzeilen zu lästern. Ihr Reklame-Deutsch enthält eine bösartige und gefährliche Botschaft. Fachliche Inkompetenz wird zur metaphysischen Hyperkompetenz emporgejubelt, Unbedarftheit als Ausdruck eines politischen Suprasinns verkauft. Wer sich der Errettung der Welt vor der Erderwärmung widmet, darf über das Kleingedruckte hinwegsehen. So wird die Erlösung von der lästigen Realität und ihren konkreten Problemen verkündet. Das grüne Wunder durchbricht die Naturgesetze, wobei die Irrationalität sich in ein technokratisches Vokabular kleidet. Baerbock beherrscht dieses Verfahren erst unvollkommen, was die ihr ergebenen Medien wiederum als erdgebundene Natürlichkeit feiern.

Das ist Wahnsinn, aber mit Methode. Die Enthüllungen ihrer biographischen Flunkereien, die ihr den Anstrich bildungsbürgerlicher Solidität und akademisch grundierter Urteilskraft geben sollten, haben keinen Absturz, nur das vorläufige Ende ihres Höhenfluges herbeigeführt. Recherchen haben ergeben, daß es mit ihren universitären Meriten in Wahrheit nicht weit her ist. Ihr Abschluß als „Master of Law (LL.M.)“, den sie nach einem Jahr an der London School of Economics erhielt, besagt gar nichts. Dafür bezahlt man je nach Kategorie rund 20.000 Euro.

Müßte man sie nicht eine Lügnerin nennen? Die Lüge beschränkt sich nicht auf platte Unwahrheitent. Es kann sich auch um ein System aus Halbwahrheiten, Insinuationen, unterlassenen Dementis und unterschlagenen Informationen handeln, die wie Zahnräder ineinandergreifen. Von ein paar belanglosen Zeitungsartikeln abgesehen, hat sie sich beruflich immer nur im Politikbetrieb bewegt.

Doch ihr Milieu steht fest zu ihr und sieht sich weiterhin durch sie repräsentiert. Es ist ein Milieu, über das Björn Harms hier kürzlich schrieb, „Personen mit höherqualifizierter Bildung (seien) über die Jahrzehnte von rechts nach links“ gewechselt (JF 24/21). Wohl wahr, aber was besagt das schon, wenn das Bildungsniveau auf sämtlichen Ebenen drastisch absinkt?

Anfang Mai veranstaltete das Europe Center des Atlantic Council – eine bekannte US-Denkfabrik – ein EU-US-Zukunftsforum. Baerbock war per Videoschaltung anwesend und wurde von dem brillanten Fareed Zakaria („Der Aufstieg der anderen“, 2008) zu ihren außenpolitischen Positionen befragt. Der Zuschauer erfuhr, daß Annalena Baerbock sich auf englisch genauso schlimm ausdrückt wie auf deutsch. Sie verkündete ihre Vorfreude auf den kommenden „transatlantischen Green Deal“. Auch müßten „(wir) ... unsere strategischen Ziele neu definieren in der Nato, in der EU, uns den neuen Herausforderungen stellen und dafür auch Ressourcen bereitstellen, zum Beispiel Militärausgaben“. Sie sprach sich für den Verbleib von US-Soldaten in Deutschland aus. Eine grüne Regierung würde die Ostseepipeline Nord Stream 2 umgehend stoppen und wegen der Ukraine mehr Härte gegen Rußland zeigen.

Ihr Parteifreund, der ehemalige Zivildienstleistende Robert Habeck, sekundierte ihr, indem er sich an der ukrainisch-russischen Grenze mit Stahlhelm und Schutzweste ablichten ließ, zu seinen Füßen ausgeworfene Patronenhülsen. Das Foto erinnerte an eine Aufnahme, die im Februar 1980 durch die Weltpresse ging: Sie zeigte Zbigniew Brzezinski, damals Sicherheitsberater des US-Präsidenten Carter, am Khyber-Paß an der pakistanisch-afghanischen Grenze, wie er ein Maschinengewehr Richtung Norden in das von der Sowjetunion okkupierte Afghanistan richtete. Sehr zum Ärger von Kanzler Helmut Schmidt (SPD), der fürchtete, daß Brzezinskis martialischer Auftritt die Ost-West-Spannungen weiter anheizte. Schmidts größte Sorge war die Möglichkeit eines atomaren Schlagabtauschs der Supermächte, dessen Hauptzielscheibe Deutschland sein würde. 

Die Grünen denken nicht politisch-strategisch, sie sind Kinder der Hypermoral. Da erstaunt es, daß sogar die relativ unverdächtige Neue Zürcher Zeitung (Sonntagsausgabe) einen großen Artikel über Baerbock mit dem Titel „Die grüne Amerikaversteherin“ versieht. Was hat sie denn verstanden? Noch einmal Brzezinski, der in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ als strategisches Anliegen der USA beschrieb, eine Verbindung der natürlichen Ressourcen Rußlands mit den – inzwischen geschrumpften – technisch-organisatorischen Ressourcen Deutschlands zu verhindern. Er forderte ein „energisches, konzentriertes und entschlossenes Einwirken Amerikas besonders auf die Deutschen, um die Ausdehnung Europas zu bestimmen“, das er sich als Teil eines US-dominierten Imperiums vorstellte, dem Rußland sich unterzuordnen hätte.

Wirklichkeitsnäher als die NZZ ist daher die Überschrift des American Councils: „Annalena Baerbock über einen ‘transatlantischen grünen Deal’ und deutsche Strategien im Kampf gegen Rußland und China“. Die Betonung des „Deals“ ist das grüne Leckerli. Von Gewicht aber ist die Versicherung Baerbocks, auch mit Blick auf China die „Menschenrechte und unsere Werte“ in eine „Balance mit wirtschaftlichen Interessen“ bringen zu wollen, was die Bereitschaft signalisiert, sich die Standpunkte der USA zu eigen zu machen. 

Die USA bleiben eine Supermacht. Das prosperierende China ist im Begriff, mit ihnen gleichzuziehen. Rußland ist im Abstieg begriffen, wird sich aufgrund seiner militärischen Stärke jedoch weiter als Großmacht behaupten. Sollten die USA auf die Idee kommen, die Interessen der absteigenden Mittelmacht Deutschland als Verhandlungsmasse zur Disposition zu stellen, um einen Interessenausgleich mit den beiden konkurrierenden Giganten zu erzielen, würde den Deutschen ihre rückhaltlose Identifizierung mit dem Hegemon schmerzhaft auf die Füße fallen.

Die Grünen hätten damit kein Problem, denn für sie gibt es keine spezifischen deutschen Interessen. Die haben sich in ihren Augen in einem europäischen Kontext und globalen Universalismus aufgelöst. Kein Wunder, daß EZB-Chefin Christine Lagarde – wie ihr Vorgänger Mario Draghi eine knallharte Vertreterin der Interessen Südeuropas und Frankreichs – Baerbocks Kandidatur regelrecht bejubelte. Schließlich stellt sie die formelle Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts in Aussicht. Baerbock hätte auch keine Bedenken, den deutschen Anteil am EU-Haushalt wachsen zu lassen, um anderen Ländern eine Energiewende zu finanzieren.

Die Grünen als erste genuine BRD-Partei und erst recht die grüne Generation 1980 ff., der Baerbock angehört, haben keinerlei positiven Bezug zu dem Land, das sie regieren wollen. In der Schule mit historischer Unbildung und Schuldstolz indoktriniert, haben sie ihre politische Sozialisation in NGOs, Young-Leaders-Programmen und trans-atlantischen Netzwerken erfahren. Die wenigsten durchschauen, daß ihr Hypermoralismus in der politischen Kalkulation anderer Mächte eine feste Größe darstellt. Doch so oder so bereitet der Schaden, den sie dem Land zufügen, ihnen keine Probleme, weil sie davon direkt profitieren. Ein banales Beispiel: Anläßlich der Grenzöffnung 2015 verkündeten die grün-rot konditionierten Medien: „Flüchtlinge schaffen Arbeitsplätze. Keine Branche wächst so schnell wie diese: Im Asylbereich steigt die Zahl der Jobs sprunghaft an.“ Nur trägt das Heer aus Sozialarbeitern, Migrationsforschern und Integrationsbeauftragten nichts zur Wertschöpfung bei, sie sorgen lediglich für die Aufblähung des Staatshaushalts. Diese Subventionsempfänger identifizieren sich natürlich mit den Grünen, denn die sorgen für permanenten Nachschub.

Zuletzt hat sich auch der frühere Siemens-Chef Joe Kaeser (Josef Käser) klar für Baerbock als Kanzlerin ausgesprochen. Außenpolitisch sehe er bei ihr eine „Mischung aus Intellekt, klarer Kante und Dialog“. Sie könne sich „unglaublich schnell“ auch in traditionelle Industriethemen wie Stahl, Chemie oder Energietechnik einarbeiten. Ihre fehlende Regierungserfahrung sei „kein entscheidender Faktor“, denn „für die Zukunft ist die Vergangenheit auch nicht immer hilfreich“.

Man muß wissen, daß Kaeser eine führende Rolle beim Daimler-Konzern bekommt und als designierter Vorsitzender in den Aufsichtsrat der Lkw-Sparte einzieht. Partner von Daimler ist die Firma WABCO, die Druckluftbremsen für LKW herstellt. Der Geschäftsführer der WABCO Holding GmbH war bis 2012 Jörg Baerbock, Annalenas Vater ...

Wer und was aber ist Annalena? Sozial ober-, intellektuell mittelklassig. Eine grüne Sprechpuppe mit dem unbedingten Willen zur Macht.