© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

Mit dem Dorf-Nazi im Tod vereint
Großstädtische Arroganz: Juli Zeh legt mit „Über Menschen“ einen Provinz-Roman vor, der sich um die Überwindung von Vorurteilen und Klischees bemüht
Felix Dirsch

Zu den wesentlichen sozialen Bruchlinien der unmittelbaren Gegenwart gehört diejenige zwischen Anywheres und Somewheres. Der britische Autor David Goodhart erklärt in seinem grundlegenden Werk „The Road to Somewhere“ (2017), wie sich anhand dieser idealtypischen Dichotomie die globale Gesellschaft neu sortiert: hier die kosmopolitischen, meist überdurchschnittlich gebildeten, digital-mobilen, „woken“ Eliten, die „Überall-Menschen“, dort die heimatverbunden-bodenständigen, öfter der Mittelklasse angehörenden, eher konservativen „Ortsmenschen“. Sie werden von den meinungsdominanten Schichten nicht selten als rückständig charakterisiert. Bisher harrte diese Kluft einer umfassenderen belletristischen Bearbeitung.

Die ursprünglich aus Bonn stammende Schriftstellerin Juli Zeh wurde einer größeren Leserschaft durch ihren Debütroman „Adler und Engel“ (2001) bekannt. In den letzten Jahren hat sie sich verstärkt dem ländlichen Raum zugewandt – sie lebt in einem kleinen Dorf im Havelland – und Erfahrungen der eigenen Wohnsituation eingebracht. Ihrer neuesten Schrift ist es gelungen, den Goodhartschen Gegensatz auf einfühlsame Weise in literarische Formen zu gießen. Welch eine gebildete Autorin die promovierte Juristin, die vor zweieinhalb Jahren als Richterin am Verfassungsgericht Brandenburgs vereidigt wurde, ist, zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Bezugnahme auf den Provinz-Apologeten Martin Heidegger, den sie in „Über Menschen“ öfter erwähnt als dessen Opponenten Theodor W. Adorno. Letzterer darf als Repräsentant der „Anywheres“ par excellence gelten. 

Die Mauer zu den bösen Rechten beginnt langsam zu bröckeln

Die Protagonistin des Romasns, Dora, ist eine typische „Überallmenschin“. Als Berliner Werbetexterin und Tochter eines angesehenen Charité-Arztes ist sie in einem bestimmten Milieu beheimatet. Die Themen, die ihr Umfeld, näherhin ihren Freund Robert, umtreiben, sind eindeutig: Donald Trump, Rechtspopulismus und AfD als Negativfolie, Klima- und Menschheitsrettung hingegen als Ziel allen moralischen Strebens.

Die Front mutet eindeutig an. Nun krempelt die Pandemie das Leben von Millionen binnen kurzer Zeit um – so auch das von Dora, die arbeitslos wird, und ihrem Freund, der flugs vom Klima- zum Corona-Warner umsattelt. Dieser Schritt ist nicht groß. Apokalyptische Visionen bestimmen hier wie dort den Alltag. Die Rolle der jugendlichen Untergangsprophetin wird hierzulande von Experten vom Schlage Drosten und Wieler übernommen. 

Das Social Distancing, in der Corona-Krise erste Bürgerpflicht, scheint sich in der Provinz besser verwirklichen zu lassen. Also kauft sich Dora, immer mehr genervt von ihrem Partner und auch sonst wenig resilient, vom Erbe ihrer verstorbenen Mutter ein verfallenes Gutsinspektorenhaus in dem fiktiven Dorf Bracken in der Prignitz. Kaum ist sie mit ihrer Hündin eingezogen, werden anfängliche Vorurteile bestätigt: Ihr bald wichtigster Nachbar stellt sich vor: „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“ Gottfried („Gote“), vorbestraft und offensichtlich völkischer Prekarier, sollte nicht der einzige bleiben. Die Glatzköpfe sind früher aufgetaucht als erwartet! Immerhin ist sie durch eine Mauer von den Bösen getrennt. Diese beginnt erst langsam zu bröckeln. Vorerst droht sie die Unordnung zu überwältigen. Es ist schwer, alles in den Griff zu bekommen. Ihre kleine Welt ist so aus den Fugen geraten wie die große, in der ein Lockdown den nächsten jagt, eine Freiheitsbeschränkung die folgende. Einer solchen Spirale ist kaum zu entkommen.

An Zehs Roman ist vieles bemerkenswert. Hervorzuheben ist besonders die Fähigkeit der Schriftstellerin, Raum und Menschen zu beobachten und zu beschreiben. Natürlich rückt die rechte Szene in den Fokus. Sie wird aber nicht mit eindeutig negativen Prädikaten, sondern vielmehr spielerisch beschrieben: Campingtisch, Bier, Gartenstuhl und andere Utensilien stehen im Vordergrund. Ganz ohne Horst-Wessel-Lied geht es nicht, aber das ist zu verzeihen.

Je mehr sie ihre neue Umgebung kennenlernt, desto undeutlicher werden die Schablonen: Sie begegnet Sadie, alleinerziehende Mutter mit Migrationshintergrund, an den Corona-Maßnahmen Leidende, die die „Multikultis“ aber ablehnt. Und da gibt es noch Franzi, Gotes Tochter. Sie lebt nach der Scheidung ihrer Eltern bei der Mutter in der Stadt und zieht zu ihrem Vater aufs Land. Ihre Sehnsucht nach einer neuen Familie berührt Dora. Mit der Tochter rückt ihr sogar der Vater näher. Dessen toxische Männlichkeit stört sie immer weniger. Als er krank wird, vermittelt sie ihm eine Behandlung bei ihrem Vater. Die Arroganz der Selbstgerechten verfliegt langsam.

In den letzten Kapiteln läuft die Autorin zur Hochform auf. Immer mehr hinterfragt sie Doras Vorurteile: Nein, Gote ist weder „QAnon“-Verschwörungsmythologe noch NPD-Mitglied. Man kann sich nicht vorstellen, daß er sich in rassistischer Absicht über George Floyd kniet. Warum nicht voreilige Schlüsse revidieren? „Trotz allem“ wird zum Schlüsselausdruck, der einst Fremde ist ihr nun näher, sie mag ihn immer mehr. Die Erzählung endet schließlich mit einer „rührstückhaften Wendung“ (Frankfurter Rundschau), bei der sich Menschen begegnen, die sich auf der Dating-App Tinder nie getroffen hätten. Das Leben ist doch reichhaltiger, als es die beste Software berechnen könnte.

Zeh hat sich mehrmals für einen klaren „Kampf gegen Rechts“ ausgesprochen – ihr Roman präsentiert sich demgegenüber vieldeutig. Manche Rezensenten monierten sogar zu viel Verständnis. „Es ist eine Erholung“, so Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau, „wenn Dora dem ‘Dorf-Nazi’ wenigstens zwischendurch deutliche Worte sagt.“

Zudem hat sich die Autorin weiter gegen das Corona-Management positioniert – diese Grundlinie ist im Text kaum zu übersehen. Kein Wunder, daß Teile der Gesinnungsblase der der politischen Linken zuzurechnenden Schriftstellerin Schnapp-atmung bekommen haben! Alle anderen Leser dürften das Buch goutieren.

Juli Zeh: Über Menschen. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2021, gebunden, 412 Seiten, 22 Euro