© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

Überlegungen zum Dexit-Beschluß der AfD
Klug war es nicht
Nicolaus Fest und Maximilian Krah

Im April faßte die AfD auf ihrem Bundesparteitag in Dresden den Beschluß, den Austritt Deutschlands aus der EU in das Bundeswahlprogramm aufzunehmen. Nun sind zwei Monate vergangen, die politischen Konsequenzen des Beschlusses werden deutlich.

Vorab: Inhaltlich ist der Beschluß nachvollziehbar. Schon vor der Covid-Krise wurden die Verträge von Maastricht und Lissabon von Kommission, EuGH und auch den beteiligten Ländern oftmals souverän negiert, und die „Rettung“ Griechenlands entgegen der No-Bail-out-Klausel war nur der klarste Bruch. Unter der Führung Ursula von der Leyens zeigten dann der angekündigte Green Deal, der EU-Migrationspakt sowie das Gender-, Diversity- und „Antirassismus“-Projekt „Konferenz zur Zukunft Europas“, wohin die Reise gehen soll. Ziel ist nicht weniger als die totale Entmachtung der Nationalstaaten auf faktisch allen wichtigen Politikfeldern, abgesichert durch die geforderte Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip und einen offen erpresserischen Rechtsstatlichkeitsmechanismus – wobei Kommission und Linksparteien entscheiden, was „rechtsstaatlich“ im Einzelfall bedeuten soll.

Doch erst das Coronavirus und der erstmalig im großen Stil durch EU-Schulden finanzierte Wiederaufbau-Fonds sorgten für die Mittel, all dies auch in die Tat umzusetzen. Mit dem Blick auf ihren Anteil an den 750 Milliarden Euro des Fonds wurden selbst harte EU-Kritiker schwach. Das berühmte Wort, wonach Macht ausnahmslos korrumpiere, war noch nie richtig; in der Wirklichkeit korrumpiert immer Geld, und besonders korrumpieren 750 Milliarden.

Was wir im Augenblick in Brüssel erleben – die immer größere Untergrabung staatlicher Souveränität wie auch den Bruch der Verträge mit Blick auf Eigenmittelaufnahme und Steuererhebung –, führt absehbar zum Ende demokratischer Mitsprache. Wenn letztlich in Brüssel entschieden wird, wer ins Land kommt, welche Steuern zu zahlen sind und wie hoch der Mindestlohn ist, kann man sich den Gang zur nationalen Wahlurne sparen. Und zu allen anderen auch.

Kurzum: Es gibt sehr gute Gründe, das Projekt EU nicht nur für gescheitert, sondern für eine akute Bedrohung jeder Demokratie zu halten – ganz abgesehen vom Versagen der EU bei der Impfstoffbeschaffung oder bei ausnahmslos jeder außenpolitischen Herausforderung der letzten Monate. Und auch ungeachtet der endemischen Korruption, Vetternwirtschaft und des kaum verhüllten Antisemitismus der EU-Politik. Aber dennoch, trotz allem, war der Dexit-Beschluß zu diesem Zeitpunkt ein Fehler.

Unsere französischen Kollegen vom Rassemblement National (RN) formulierten es noch am freundlichsten. Sie sind sehr viel länger im Geschäft als die AfD, haben schon alles erlebt und besitzen, da das EU-Parlament für französische Parteien deutlich wichtiger ist als für deutsche, ausgewiesene politische Schwergewichte unter ihren Abgeordneten. Auch der RN plädierte lange Zeit für den Frexit. Doch war es eben diese Forderung, die nach Analysen des RN bei der Präsidentschaftswahl 2017 zu der deutlichen Niederlage gegen Macron führte. Denn die Forderung nach einem Austritt Frankreichs ermöglichte es Macron, sich als Bannerträger eines geeinten Europas zu gerieren und die Wahl zwischen ihm und Le Pen als Entscheidung zwischen einer friedlichen Zukunft und dem Chaos eines zerbrechenden Kontinents zu inszenieren. Das entschied die Wahl.

Aus Schaden klug geworden, warfen die Franzosen die Forderung nach einem Frexit kurzerhand aus dem Programm. Erreichten sie 2017 knapp 34 Prozent, liegen sie derzeit – trotz enttäuschender Ergebnisse bei der jüngsten Regionalwahl – bei 48 Prozent, ein Plus von 14 Prozentpunkten! Damit haben sie Aussicht, im nächsten Jahr die erste Präsidentin Frankreichs in den Élysée-Palast zu entsenden.

Der RN hat begriffen, daß viele Wähler – bei aller Skepsis gegenüber der Brüsseler Politik – sich nicht restlos von der Idee eines geeinten Europas verabschieden möchten, für die die EU nun einmal symbolisch steht. Und der RN hat, anders als die AfD, auch erkannt, daß der Wurm dem Fisch schmecken muß, nicht dem Angler. Amüsiert kommentierten einzelne Abgeordnete des RN daher den Beschluß von Dresden im April dieses Jahres, es sei zwar sympathisch, daß die AfD ihre Fehler kopiere, aber nicht sehr intelligent. Das mag vordergründig freundlich klingen, doch steht hinter solch mildem Spott die Frage, ob man mit einer Partei, die aus Fehlern der Nachbarn nicht lernt und nicht taktisch denken kann oder will, eine Fraktion bilden sollte.

Diese Frage ist zur Zeit von hoher Aktualität. Durch den Austritt der ungarischen Fidesz aus der christdemokratischen Fraktion EVP ist Bewegung in die Zusammensetzungen der multinationalen Fraktionen im EU-Parlament gekommen. Manche Parteien sehen sich politisch besser bei anderen Fraktionen aufgehoben, andere haben Probleme mit ihren fraktionsinternen Partnern. Und überhaupt ist Anfang des kommenden Jahres parlamentarische Halbzeit: Im Januar 2022 werden Präsidiumssitze, Ausschüsse und Delegationen neu verteilt, und ebenso können sich neue Fraktionen bilden. Neben dem politischen Tagesgeschäft beherrscht diese Frage momentan den Alltag von Brüssel.

Dabei wirkt der Dexit-Beschluß wie ein Mühlstein am Halse. Denn er steht einerseits für mangelndes taktisches Verständnis, daneben aber auch für eine Unberechenbarkeit der AfD, die ein Zusammengehen für konservative Partnerparteien wenig attraktiv macht. Und drittens wirkt er, flankiert durch eine mediale Berichterstattung, die auch in Frankreich, Italien, Polen und Ungarn genau verfolgt wird, als Zeichen der Radikalisierung – denn warum hätte die AfD ohne Anlaß und außerhalb des EU-Wahlkampfes den Dexit-Beschluß fassen sollen, wenn nicht als Ausdruck radikaler Systemgegnerschaft?

Diese Radikalisierung aber ist das letzte, was die anderen konservativen Parteien möchten. Lega, Fidesz und PiS treten als Regierungsparteien ohnehin staatstragend auf, und das heißt: Bei aller Kritik im einzelnen stellen sie die EU insgesamt nicht oder nicht mehr in Frage. Eine prononcierte Exit-Partei wäre für sie kein denkbarer Fraktionspartner. Und der RN wird, bei aller freundschaftlichen Verbundenheit, einen möglichen Wahlsieg in seiner Heimat ganz sicherlich nicht der Treue zur AfD opfern, schon gar nicht nach der erfolgreichen Neupositionierung in der EU-Frage. Sehr genau schauen die ausländischen konservativen Parteien daher auf die Bundestagswahl – und noch mehr auf die Bundesvorstandswahl der AfD Ende des Jahres. Sollte sich dann der Eindruck verfestigen, die AfD befinde sich personell und europapolitisch auf dem Weg einer Radikalisierung, dürfte die AfD ab Februar 2022 als „non attached“ außerhalb aller Fraktionen verbleiben.

Was das medial bedeuten würde, kann man sich vorstellen. Daß die AfD selbst der Fidesz, der PiS oder dem RN „zu radikal“ ist, wäre der vorhersehbare Tenor der hiesigen Medien zu einer solchen Fraktionslosigkeit. Zudem gingen der EU-Delegation der AfD Gelder in Höhe von bis zu einer Million Euro pro Jahr für Veranstaltungen und Werbemittel verloren. Noch schwerer aber wiegt, daß die EU-Abgeordneten der AfD den Status als Voll- oder Ersatz-Mitglieder in Ausschüssen verlören – und damit den Zugang zu wesentlichen Informationen. Ohne die aber ist eine sinnvolle parlamentarische Opposition schlicht nicht möglich. Wer von den offiziellen und – noch wichtiger – den inoffiziellen Informationen abgeschnitten ist, kann sich im Grunde schon morgens auf der schönen Place Luxembourg ins Café setzen und den Tag vorbeiziehen lassen. Ernsthaft zu tun gibt es dann nichts mehr.

Der Dexit-Beschluß mag von dem Wunsch getragen gewesen sein, einer beängstigend extremistischen, selbstherrlich und oft vertragswidrig agierenden EU Grenzen aufzuzeigen. Das war verständlich, klug war es nicht. Gut gemeint ist auch hier das Gegenteil von gut. Richtigerweise hätte man sich am RN orientiert. Nicht die Begeisterung über die eigene Kompromißlosigkeit gewinnt die Macht, sondern Klugheit, Voraussicht und taktisches Gespür.






Dr. Nicolaus Fest, Jahrgang 1962, ist seit 2019 AfD-Abgeordneter im EU-Parlament. Der Jurist und Journalist war bis September 2014 stellvertretender Chefredakteur der Bild am Sonntag.

Dr. Maximilian Krah, Jahrgang 1977, ist Jurist und stellvertretender Vorsitzender der AfD Sachsen. 2019 wurde er für seine Partei ins EU-Parlament gewählt.

Foto: Das zerbrochene EU-Ei: Der Dexit-Beschluß der AfD wird als mangelndes taktisches Verständnis und als Zeichen der Radikalisierung gedeutet