© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

Es hörte nicht auf
Vor 75 Jahren warf der Pogrom von Kielce ein Schlaglicht auf den Antisemitismus in Polen
Stefan Scheil

Über vierzig Tote wurden am Ende gezählt, am 4. Juli 1946 in der polnischen Stadt Kielce. Sie waren Juden, Opfer gewalttätiger Ausschreitungen durch die polnische Zivilbevölkerung, die auch von den örtlichen Behörden nicht verhindert, sondern eher begünstigt worden waren. Diese Gewalttat sendete ein deutliches Signal: die Verfolgung von Juden in Polen ging nach dem Kriegsende von 1945 und dem damit beendeten NS-Massenmord weiter.

Gerade in der Stadt Kielce konnte das letztlich nicht einmal sonderlich überraschen. In dem immer wieder von Pogromen und grundsätzlicher Judenfeindschaft geschüttelten Zwischenkriegspolen hatten antijüdische Ausschreitungen praktisch mit dem Tag der Staatsgründung im Jahr 1918 begonnen, und zwar unter anderem genau dort. 

Man schrieb den 11. November 1918, als sich die örtliche Judenschaft in Kielce im Theater der Stadt versammelte. Man diskutierte darüber, welchen Status die Juden in der neugegründeten Republik einnehmen sollten. Gefordert wurden kulturelle Autonomie und weitere Minderheitenrechte. Über solche Fragen sprach man schon seit Jahren, genaugenommen seit 1915, als die deutschen Streitkräfte den russischen Gegner im Ersten Weltkrieg aus Polen hinausgeworfen hatten und sich danach lebhaft als Befreier der bisher im russischen Völkerkerker schmachtenden Populationen betätigten.

Juden dominierten im neuen Staat Handel, Wirtschaft und Kultur

Es hatte sich allerdings erwiesen, daß die Quadratur des Kreises und eines Ausgleichs zwischen polnischen, jüdischen, ukrainischen, weißrussischen oder litauischen Interessen nicht gelingen konnte, jedenfalls nicht unter Kriegsbedingungen. Vielleicht hätte sich dies geändert, hätte das deutsche Kaiserreich seine Niederlage vermeiden können, aber so stand im November 1918 alles wieder neu zur Verhandlung. Auch im neuzugründenden Polen war damit die Stellung der mehr als drei Millionen im Land lebenden Juden von Anfang an eine umstrittene Angelegenheit. Der Konflikt selbst war deutlich älter als der Staat und selbst älter als der deutsche Einmarsch. Er hatte schon 1912 in einem landesweiten Boykott jüdischer Händler durch die polnische Nationalbewegung seinen radikalen Ausdruck gefunden.

Der außergewöhnlich hohe Anteil der jüdischen Bevölkerung im Zwischenkriegspolen geriet geradezu zwangsläufig in Konflikt mit den Ansprüchen des polnischen Nationalismus. Genaugenommen gehörte er zu jenen Tatsachen, die diese Ansprüche ad absurdum führten. So wie die Dinge lagen, mußte die Republik Polen selbst als „Kongreßpolen“ ein ethnisch vielfältiger Staat sein und eben kein rein polnischer Staat. In diesem vielfältigen Staat nun hatte die polnische Bevölkerung im Rahmen fairer Konkurrenz keine Aussicht, eine kulturell oder wirtschaftlich dominierende Rolle auszuüben. So wie die Strukturen sich seit dem Mittelalter und zuletzt in den hundertzwanzig Jahren der Teilungszeit entwickelt hatten, in denen es keinen polnischen Staat gab, stand die jüdische Bevölkerung in Polen in Handel, Wirtschaft und Kultur einem rein polnischen Anspruch automatisch im Weg.

So stand die damals überall aktuelle Frage nach Minderheitenrechten in Polen mit besonderer Brisanz auf der Tagesordnung. Die Entstehung der „Minderheitenschutzklauseln“, die Polen schließlich unterschreiben mußte, verdankte sich nicht zuletzt den in der unmittelbaren Nachkriegszeit 1918/19 einsetzenden antijüdischen Pogromen und der Berichterstattung darüber. Israel Cohen, „Special Commissioner of the Zionist Organization“ veröffentlichte in der Times und anderen britischen Zeitungen eine Artikelserie zum Thema, die starke Eindrücke hinterließ. Auf Nachfrage der US-Regierung beim nationaldemokratischen Mitglied der polnischen Delegation in Versailles, Roman Dmowski, was es damit auf sich habe, blieb dieser die Antwort nicht schuldig und ließ seinen judenfeindlichen Ansichten freien Lauf: „Juden bilden zehn Prozent unserer Bevölkerung, und das sind meiner Meinung nach mindestens acht Prozent zu viel. Wo es nur kleine Gruppen von Juden gibt, sogar dort, wo sie dann wie so oft hauptsächlich im Handel oder im Geldverleih tätig sind, läuft alles rund; aber wenn mehr dazukommen, und es kommen immer mehr dazu, da gibt es Ärger und ab und zu kleine Pogrome. (...) Wenn nicht entsprechende Richtlinien geschaffen werden, sind bald alle unsere Rechtsanwälte, Ärzte und Kleinhändler ausschließlich Juden.“

Die Großmächte reagierten auf diese und andere Ausführungen mit diplomatischem Druck, und dies so lange, bis Polen 1919 schließlich gezwungen war, entsprechende Minderheitenschutzabkommen zu unterzeichnen. Das besserte die Stimmung des polnischen Nationalismus nicht, und die Warschauer Regierung nahm denn 1934 auch die erste Gelegenheit wahr, diese Abkommen zu kündigen, als Preis für die polnische Zustimmung zum Völkerbundbeitritt der Sowjetunion. Dies war ein schwerer Schritt, denn unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution hatte sich der polnische Antisemitismus um eine antikommunistische Variante erweitert. Ministerpräsident Felicjan Slawoj-Skladkowski drückte dies 1937 so aus: „In diesem Teil Europas lebt man unter einem atmosphärischen Druck, von dem man sich in den westlichen Ländern keinen Begriff macht. Schwer lösbar ist auch bei uns die Judenfrage, 60 Prozent unserer Juden sind Kommunisten und 90 Prozent unserer Kommunisten sind Juden.“

Gewalt gegen Juden blieb in Polen vor 1939 eine häufige Erscheinung

Im Jahr 1936 zählte man laut der israelischen Historikerin Yfaat Weiss etwa tausend bei gewalttätigen Ausschreitungen erschlagene Juden in Polen. 1918 in Kielce hatte es neben vier Toten vor allem viele Verletzte gegeben. Gewalt gegen Juden blieb in Polen zwischen 1918 und 1939 eine häufige Erscheinung, der Antisemitismus bis 1939 letztlich offene Regierungspolitik. Der polnische Botschafter in den Vereinigten Staaten, Jerzy Graf Potocki, erklärte 1938 gegenüber Vertretern des American Jewish Committee, daß mindestens 50.000 Juden pro Jahr aus Polen auswandern müßten. Nur so könnten antisemitische Übergriffe dauerhaft  verhindert werden.

Nach dem Pogrom von Kielce im Jahr 1946 schien sich auch unter den neuen Bedingungen nichts geändert zu haben. Die meisten der noch etwa 240.000 polnischen Juden gaben schließlich nach und nach auf, vor allem nach einer staatlichen „antizionistischen“ Kampagne 1968, und wanderten aus. Heute umfaßt die jüdische Gemeinde in Polen noch etwa 12.000 Mitglieder.