© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

Integration und Exodus
Zur schwierigen russisch-jüdischen Beziehungsgeschichte
Oliver Busch

Die in der Zwischenkriegszeit vieldiskutierte Frage nach dem Anteil säkularisierter Juden an Lenins Machtergreifung und den folgenden Jahrzehnten bolschewistischer Diktatur spart der Osteuropahistoriker Frank Grüner (Bielefeld) in seiner Übersicht zur russisch-jüdischen Beziehungsgeschichte seit der Oktoberrevolution zwar aus. So kann er die von diesem politisierten Reizthema ausgehende Gefahr der Vereinseitigung einer hochkomplexen Materie elegant umschiffen (Aus Politik und Zeitgeschichte, 16/2021). 

Stattdessen konzentriert sich Grüner didaktisch vorbildlich auf die Darstellung des spannungsreichen, letztlich gescheiterten Miteinanders von Russen und Juden. Trotz unterschiedlicher ideologischer Standpunkte seien sich Lenin und Stalin im grundsätzlichen Ziel ihrer Judenpolitik einig gewesen: der vollständigen Assimilation der 2,7 Millionen Juden in die „Sowjetgesellschaft“. Die jüdische Religion galt dafür als wesentliches Hindernis, so daß das Regime seit 1929 seine Repressionen gegen jüdische religiöse Institutionen „beispiellos verschärft“ habe. 

Gleichzeitig mußten sämtliche Einrichtungen der bis dahin geförderten proletarisch-jiddischen Kultur schließen. Der größere Teil der zumeist großstädtischen jüdischen Bevölkerung nahm das Angebot kultureller Assimilation jedoch an. Was mit sozialem Aufstieg belohnt wurde. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs war das Gros der sowjetischen Juden arriviert, hatte als überdurchschnittlich gebildete, gut integrierte Bevölkerungsgruppe am radikalen sozialen Umbau partizipiert. Gerade viele Karrieren in der jüngeren Generation kündeten von einer „Entwicklung vom ‘Schtetl-Juden’ zum modernen ‘Sowjetmenschen’“, die noch im zaristischen Rußland der Pogrome unvorstellbar gewesen wäre.

Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust beendeten diese Erfolgsgeschichte. Obwohl sich die sowjetischen Juden, deren Zahl sich mit der Okkupation Ostpolens fast verdoppelte, in der Roten Armee und im Partisanenkampf in der Abwehr der deutschen Invasion stark für das Sowjetregime einsetzten, ernteten sie nach Kriegsende keinen Dank. Seltsamerweise nährte der Holocaust sogar virulente antisemitische Einstellungen in der russischen Bevölkerung. Zudem paßte die Tragödie des Völkermords und das dadurch betonte jüdische „Sonderopfer“ nicht zur Meistererzählung von der Einheit des „über den Faschismus siegreichen Sowjetvolkes“. So wurde auch die Veröffentlichung des von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman seit 1943 erstellten „Schwarzbuches“ über den Judenmord von der Zensur verhindert. 

Vom verschleiernden Umgang mit dem Holocaust war es 1947/48 nur noch ein kleiner Schritt bis zur vollzogenen antisemitischen Kampagne gegen die „wurzellosen Kosmopoliten“, nach der alle jüdischen Institutionen aufgelöst wurden. Bis in die achtziger Jahre wurde auch das religiöse Leben immer mehr eingeengt, zuletzt existierten nur noch knapp hundert Synagogen. Das führte zum anhaltenden Exodus, der nach dem Zerfall der Sowjetunion bis auf mehrere hunderttausend russische Juden anschwoll.


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