© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

Arroganz und Bockigkeit
Norbert Mappes-Niediek analysiert, warum das westliche Europa den Osten nicht versteht
Thorsten Hinz

Ein Abgesandter aus dem Westen erschien im Osten und verkündete: „Ich bin nicht gekommen, um mich verwirren zu lassen, sondern um euch zu bessern.“ Die Angesprochenen waren empört und schimpften: Frechheit, Anmaßung, Überheblichkeit! Die Szene, die der Journalist und Osteuropa-Kenner Norbert Mappes-Niediek schildert, hat sich östlich der Elbe nach 1989 in unzähligen Variationen abgespielt. Auch der Rezensent erlebte vor 30 Jahren während einer Germanisten-Tagung in Bonn, daß auf dem Podium ein recht bekannter Literaturprofessor der Berliner Humboldt-Universität sich über die Abwicklung der Ost-Akademiker beklagte und ein Wessi dazwischenrief: „Sie werden nicht nur abgewickelt, sie werden entwickelt!“

Der Besser-Wessi jedoch, von dem Mappes-Niediek berichtet, hieß Humbert von Moyenmoutier. Er war ein hochgebildeter Benediktinermönch, den Papst Leo IX. 1054 zum Kaiser nach Konstantinopel mit dem Auftrag geschickt hatte, die Ostkirche auf Westkurs zu bringen. Er scheiterte am Patriarchen Kerullarios. Der war bereit zu einem Formelkompromiß. Als er jedoch begriff, daß sein Gegenüber die Unterwerfung verlangte, schalt er die Gäste aus Rom als „Gotteslästerer“ und „Teufelskinder“. 

Die unterhaltsame Aufbereitung dieser mittelalterlichen Affäre steht exemplarisch für die dramaturgischen und erzählerischen Qualitäten des Buches. Der Autor schlägt mit leichter Hand den Bogen von der Alltagserfahrung zur großen Geschichte und wieder zurück. Er demonstriert, daß der europäische Himmel – „dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer“ (Christa Wolf) – nicht erst seit den Jalta-Beschlüssen vom Februar 1945, sondern schon seit tausend Jahren geteilt ist. Die Theologen des Westens wollten dem Herrgott mit Rationalität und Logik beikommen, die östlichen hielten es mehr mit Mystik und Kontemplation, der Westen erhob Anspruch auf den Besitz einer alleingültigen Wahrheit, der Osten beharrte auf seiner Besonderheit. Das alte religiöse Schisma schreibt sich in säkularer Form bis heute fort. Was 1989/90 als die Wiedervereinigung Europas gefeiert und mit der EU-Osterweiterung scheinbar besiegelt wurde, beruhte daher zu einem guten Teil auf einem Mißverständnis. Der Autor will es beheben.

Der Westler, der „Osten“ sagt, verbindet damit in der Regel über die Himmelsrichtung hinaus die Vorstellung von Rückständigkeit, Armut, Stammesdenken und Autoritarismus. Doch wo beginnt der Osten überhaupt? Hinter der Elbe, der Oder oder hinter dem Bug? Die Völkerschaften, die auf diesen Territorien siedeln, haben ganz unterschiedliche Erfahrungen und Prägungen. Sind Böhmen oder Ungarn tatsächlich östlich? Kann man die Balten und die Serben in dieselbe Schublade stecken? In diesem Sinne könnte man beliebig fortfahren. Als Formelkompromiß bietet sich an: Der Osten liegt jedenfalls westlich des muslimischen Orients, wobei Rußland eine Sonderrolle einnimmt.

Der Westen will dem Osten seine Lebensweise aufdrängen

Deutschland wird eine „verspätete Nation“ genannt, weil die Deutschen später als die Westeuropäer in einem Nationalstaat zusammenfanden, der zudem viele Deutsche außen vor ließ. Ein Vergleich mit den kleinen Völkern des Ostens, die bis zum Ersten Weltkrieg meistenteils in Imperien – in der k.u.k. Monarchie, dem Zarenreich und unter den Osmanen – lebten, relativiert den deutschen Sonderfall. Laut Mappes-Niediek behaupteten sie sich, indem sie die Nation als eine erweiterte Familie verstanden, während in den modernen Nationalstaaten die Nation als erweiterte Nachbarschaft definiert wurde. Die Familie ist eine Gemeinschaft, die Nachbarschaft ist gesellschaftlich. Die Gemeinschaft regelt ihre Angelegenheiten informell, nach ungeschriebenen Gesetzen, die Gesellschaft pocht auf formalisiertes Recht.

Aus diesem tradierten Unterschied rühren viele der neuen Ost-West-Konflikte her. Der Autor nimmt die Positionen der beiden Konfliktparteien gleichermaßen ernst, anstatt – wie sonst üblich – die westliche als die einzig richtige vorauszusetzen. Er erläutert sie ausführlich am Umgang mit der Homosexualität. In den 1960er Jahren war es für schwule Paare leichter, in Warschau oder Budapest ein gemeinsames Hotelzimmer zu bekommen als in westlichen Hauptstädten. Die sogenannte Homophobie wurde hier erst zum Problem, als der sexuell revolutionierte Westen versuchte, dem Osten vermeintliche Errungenschaften wie die Schwulenehe als neue Normalität aufzudrängen und die stillschweigend geübte, innerfamiliäre Toleranz gesellschaftspolitisch und ideologisch zu überformen. Der Autor idealisiert diese Toleranz-Variante keineswegs, sondern stellt dar, daß sie die Korruption begünstigt.

Interessant ist seine Erklärung der Krim-Annexion: Rußland habe der wertebasierten Übergriffigkeit des Westens damit eine reziproke Antwort zuteil werden lassen. Sie sei als Reaktion auf die Abspaltung des Kosovo von Serbien konzipiert worden. Der Westen hatte damals argumentiert, mit dem Krieg hätten die Serben ihr Recht verspielt, das albanisch besiedelte Territorium weiter zu regieren. Die Russen verzichteten auf moralische Begründungen, ihnen genügte zur Legitimation eine Volksabstimmung.

Die Westeuropäer sind davon überzeugt, daß sie die armen Ost-Verwandten in der EU durchfüttern müssen. Die Osteuropäer sehen das anders. Sie verweisen auf die Profite, die westliche Konzerne aus den niedrigen Lohnkosten vor Ort ziehen, sowie auf die Abwanderung von Akademikern, insbesondere von Medizinern, wovon der Westen ebenfalls profitiert. Lettland hat seit 1990 gut 27 Prozent seiner Einwohner verloren. Ähnlich sieht es in Bulgarien aus, wo ein nochmaliger Aderlaß von 25 Prozent bis 2050 prognostiziert wird. Die Steuereinnahmen brechen ein, die schrumpfende Bevölkerung wird mit den Problemen allein gelassen. Mappes-Niediek sieht als Vorbild die USA, wo die reichen Staaten viel mehr zur Finanzierung der armen beitragen als in der Europäischen Union. Hier wäre einzuwenden, daß US-Bundesstaaten auch pleite gehen können, während in Europa die Staatsschulden schleichend vergemeinschaftet werden.

Aber vielleicht drängen sich schon bald ganz andere Fragen in den Vordergrund. Ethnisch und religiös aufgeladene Verteilungskämpfe in den westlichen Metropolen liegen längst im Bereich des Denkbaren. Manche Regionen Westeuropas werden dann für die angestammte Bevölkerung kaum noch lebenswert sein. Auch deshalb empfiehlt es sich, den Osten besser verstehen zu lernen. Mappes-Niediek bietet dafür einen guten Einstieg.

Norbert Mappes-Niediek: Europas geteilter Himmel. Warum der Westen den Osten nicht versteht. Ch. Links Verlag, Berlin 2021, gebunden, 297 Seiten, 22 Euro