© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

Gezielter Abschuß
Vor den Wahlen lenkt die CDU in der Lex Wolf ein / Schutz von Menschen und Nutztieren
Ralf Meese

Der Nationalpark Große Fatra, gelegen zwischen den einst ungarischen Komitaten Turz und Liptau mit seiner berühmten Burg, ist eines der schönsten Urlaubsziele der Slowakei: urtümliche Wälder, malerische Täler und eine reiche Flora und Fauna. Doch am 14. Juni wurde unweit der Gemeinde Lúzsna (Liptovská Lúžna) die Leiche eines Wanderers gefunden – der 57jährige war Bärenbissen zum Opfer gefallen. Seither tobt eine Debatte um die Aufhebung des Jagdverbots: „Wir haben alles getan, um die Bären zu schützen. Jetzt ist es höchste Zeit, die Menschen zu schützen“, heißt es vom slowakischen Jagdverband. 2020 hatte es fünf Bärenangriffe auf Menschen gegeben, die allerdings nicht tödlich waren. Innerhalb von 20 Jahren hat sich die Zahl der Bären von 900 auf 2.760 erhöht. In Rumänien sind es 6.000, aber das Land ist fünfmal größer.

In Südtirol gab es voriges Jahr Bärenattacken auf zwei Wanderer und einen Polizisten, die aber glimpflich ausgingen. Doch das Bären-Opfer in der Niederen Tatra hat die Debatte dort erneut befeuert. „Wer bestäubt die Blüten, wenn Bären immer häufiger Bienenstöcke plündern? Die Bärenpopulation nimmt stetig zu“, klagt Stefan Haspinger, Obmann des Imkerbundes. Zudem wachse die Gefahr für die Imker selbst. Der Südtiroler Bauernbund (SBB) verweist auf eine weitere Problematik: „Auch die Wölfe vermehren sich stark und werden in Zukunft erwartungsgemäß mehr Nutztiere reißen. Wenn es so weitergeht, werden viele Tierhalter ihre Tätigkeit aufgeben und ihre Tiere nicht mehr auf die Almen treiben“, warnt SBB-Chef Bernhard Burger. „Es kann nicht sein, daß wir unsere Tiere in den Ställen einsperren oder im Wald und auf den Wiesen und Weiden einzäunen müssen, damit Bär und Wolf sich frei bewegen können.“

Ein auch nach EU-Recht streng geschütztes Raubtier

In Deutschland sind Bärensichtungen bislang Einzelereignisse: Problembär „Bruno“ wurde 2006 in Oberbayern erlegt. Der 2019 in eine Fotofalle getappte Braunbär wurde nicht wiedergesehen. Der Wolf ist hingegen heimisch geworden – und das nach EU-Recht streng geschützte Raubtier ist sogar zum gezielten Abschuß freigegeben. Die Voraussetzung: In einer Region müssen bereits viele Tiere leben. In Niedersachsen sei ein „guter Erhaltungszustand beim Wolf erreicht“, sagt nun Bundesagrarministerin Julia Klöckner. Mit dieser überraschenden Kehrtwende erhört die CDU-Politikerin kurz vor der Bundestagswahl die berechtigten Ängste vieler Menschen vor dem grauen Räuber, der aus dem Osten immer tiefer nach Deutschland vordringt. Sie könne sehr gut nachvollziehen, daß Eltern um ihre Kinder besorgt seien, und wirft der SPD eine „Blockadehaltung“ vor: Bundesumweltministerin Svenja Schulze sei „weltfremd“. Dabei bezieht sich Klöckner auf die „Lex Wolf“ genannte Verschärfung des Bundesnaturschutzgesetzes von 2019.

Und es gibt noch eine überraschende Entscheidung: In Potsdam hat das Amtsgericht einen Jäger freigesprochen, der wegen des Abschusses eines Wolfes angeklagt worden war. Dem 61jährigen Niederländer wurde zur Last gelegt, im Frühjahr 2019 im Fläming südwestlich von Berlin einen Isegrim abgeschossen zu haben, allerdings nur, weil dieser die Jagdhunde angegriffen und sich nicht durch einen Warnschuß von seinem Angriff abhalten ließ. Der Richter sah einen Notstand. Von einem „positiven Signal für alle Jäger“ sprach Torsten Reinwald, Sprecher des Deutschen Jagdverbandes (DJV).

Auch die Freien Bauern, die Interessenvertretung der bäuerlichen Familienbetriebe, begrüßten den Freispruch. Schon lange fordern sie eine generelle Bestandsreglung des Wolfes und mehr Rechtssicherheit für Fälle, in denen sich Wölfe alles andere als scheu zeigen. Reinwald verweist auf Schweden, wo ein Wolf erlegt werden darf, wenn er andere Tiere angreife und auf Rufen, Klatschen und Warnschüsse nicht reagiere. Ähnliche Regeln für Deutschland verlangen Rinderallianz, der Deutsche Bauernverband und der Schaf- und Ziegenzuchtverband.

Waren es am Anfang Truppenübungsplätze, auf denen sich Wolfsrudel ansiedelten, so gibt es inzwischen einen breiten Gebietsstreifen, der sich von Brandenburg und Sachsen-Anhalt über Mecklenburg-Vorpommern bis nach Niedersachsen zieht. Insgesamt lebten 2020 in Deutschland 128 Rudel, 23 mehr als im Vorjahr. Einzelne Tiere erkunden längst dichtbesiedelte Regionen. In Köln-Ehrenfeld zeigten jetzt Überwachungskameras einen Wolf, der nachts durch den Stadtteil lief. Zwei Tage später waren vier Schafe gerissen. Vor einem Jahr streifte eine Wölfin durch den Wald zwischen Schmöckwitz und Grünau und entlang des Adlergestells im Berliner Südosten. Seitdem ist die dortige Bezirksverordnetenversammlung alarmiert. Schutzmaßnahmen fordern die Grünen – nicht für den Menschen und seine Nutztiere, sondern für den Räuber.

In Berlin-Pankow soll mit Blick auf die Weidetierhaltung im Norden gemeinsam mit Naturschutzverbänden ein „Wolfsmanagement“ geschaffen werden, damit man sich „optimal auf die Präsenz von Wölfen im Bezirk“ durch „Beratung, Information und Aufklärung, Monitoring, Prävention sowie Schadensausgleich“ vorbereiten könne. In Hünxe am Niederrhein registrierte ein Bauer sechs Angriffe auf seine Herde, bei denen insgesamt 14 Schafe gerissen wurden. Während der dortige Gemeinderat einen Abschuß der zu einem in den Wäldern bei Schermbeck lebenden Rudel gehörenden Wölfin fordert, haben viele Nutztierhalter in der sächsischen Oberlausitz längst aufgegeben, derartiges zu verlangen. Angesichts der verfestigten Strukturen der staatlich bezahlten Wolfsschützer sind sie schon zufrieden, wenn der Freistaat Sachsen ihnen einen Teil der durch den staatlich geschützten Wolf aufgetretenen Schäden ersetzt.

Das Fast Food auf der Wiese ist für Isegrim sehr verlockend

Nach Angaben der Bundesagrarministerin wurden 2019 deutschlandweit fast 3.000 Nutztiere von Wölfen getötet und verletzt: „Wo soll das enden, wenn man es einfach ließe?“ Klöckner räumt ein, daß sie sehr gut nachvollziehen könne, daß sich Eltern um ihre Kinder sorgen. Gerade das war aber noch vor kurzem von der Politik bestritten worden. Niemand müsse sich sorgen, Wölfe hätten gegenüber dem Menschen einen Fluchtinstinkt. Alle historischen Berichte über hungrige Rudel oder Einzeltiere, die Menschen angreifen, wurden ins Reich der Märchen verwiesen. Selbst über den Abschuß von verhaltensauffälligen Wölfen – der schon jetzt rechtlich erlaubt ist – wurde bisher gestritten.

„Der Wolf muß lernen, daß das Fast Food auf der Wiese zwar sehr verlockend ist, aber daß es dann doch tödlich für ihn enden könnte“, forderte DJF-Sprecher Reinwald in der Bild-Zeitung. Tatsächlich wurden Wölfe bisher von den Behörden nur in den seltensten Fällen zum Abschuß freigegeben, und nicht selten waren sie bereits weitergezogen, als die Bürokratie endlich einlenkte. Da bei Menschen, in deren Siedlungsgebieten Wölfe wildern, diese als Bedrohung wahrgenommen werden, die Unterstützung für den Artenschutz sinkt, wird jeder überfahrene Wolf als auch illegal abgeschossene Tiere nach dem Motto „Schießen, Schippen, Schweigen“ eher positiv gewertet. Geradezu verzweifelt klingt Ralf Unna vom Landestierschutzverband NRW, wenn er sich nach jahrelanger erfolgreicher Lobbyarbeit jetzt gezwungen sieht, mit Klöckner eine Bundesministerin daran zu erinnern, daß Wölfe seit mehr als 20 Jahren wieder in Deutschland leben würden, ohne daß es einen einzigen Angriff auf Menschen gegeben habe: „Der Wolf gehört in unsere Naturlandschaft.“

 www.wolfsmonitoring.com

 www.dbb-wolf.de