© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

Der Flaneur
In der Sommernacht
Paul Leonhard

Kurz vor Mitternacht mache ich es mir auf der Terrasse im Liegestuhl gemütlich. Die laue Sommernacht muß einfach genossen, verlängert und bis ins Letzte ausgekostet werden. Trotz der nach dem langen Flanieren durch den heißen Tag längst erreichten Bettschwere und der Drohung des Weckers mit der morgendlichen Alarmzeit. Wer weiß, was kommt. Der Wetterbericht weiß von einem erneuten Temperatursturz. Es lebe der Augenblick. Es gilt die Eindrücke des Tages zu rekapitulieren, bis ich mit mir selbst im reinen bin. Den Rotwein genießen. Auf die aus dem Haus befreiten Grünpflanzen blicken, während von der Treppe zur Tiefgarage eine am Lebensende angelangte Leuchte zuckend flackert. Den für eine Großstadt auffallend reichen Sternenhimmel mit den seit Kindertagen vertrauten Sternbildern bestaunen, als wäre es das erste Mal.

Natürlich wurde das Vertrauen sofort enttäuscht und zu viele Umarmungen und Küßchen verteilt.

So viele glückliche Menschen heute. Väter spielten mit ihren Kleinen Ball. Frauen lagen schwatzend auf Picknickdecken im satten Grün. Rentner saßen zufrieden auf Bänken. Die Brunnen warfen Fontänen, ein schneeweißer Schwan brütete. In den leichten Lüftchen flatterten bunte Drachen, als würde es keinen Herbst geben. Alles erst ein paar Stunden her.

Irgendwo röhrt ein schweres Motorrad durch die Nacht, beschleunigt eine Straßenbahn, rattert ein langer Güterzug ins Böhmische. Mit seiner Schienenstrangmelodie weckt er Sehnsucht nach fremden, vertrauten Ländern. Fernweh ergreift mich Undankbaren, der ich mich doch eigentlich freuen sollte, daß die Regierenden uns Picknicks im Park gestattet haben. 

Natürlich wurde das gesetzte Vertrauen sofort wieder enttäuscht. Zu viele, zu dicht, zu lieb, zu nah. Zu viele Küßchen und Umarmungen, zu viel Vertrautheit. Da gilt es aufzupassen, es nicht zu übertreiben. Schließlich wählt sich die Regierung im September ein neues Volk. Und vielleicht werden wir abgewählt und müssen als Minderheit in die Opposition oder werden in den Schrebergarten gesperrt.