© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/21 / 09. Juli 2021

Aufruf von Staatsrechtlern
Die EU am Rubikon
Dieter Stein

Die politische Elite der Europäischen Union hat nichts aus dem Brexit, dem Austritt Großbritanniens aus der EU gelernt. Im Gegenteil: Der Wegfall eines Landes, das besonders auf die Balance zwischen der Brüsseler Zentralbürokratie und Souveränitätsrechten der Nationalstaaten gepocht hatte, ließ letzte Hemmungen fallen. Die Mehrheitsverhältnisse haben sich zugunsten der Nehmerländer verschoben, Hauptnettozahler Deutschland, präziser seine politische Klasse, ist aufgrund einer unbewältigten nationalen Neurose sogar darin vernarrt, die eigene Staatlichkeit einem europäischen Superstaat  zu opfern. 

Sinnbild dieser Obsession, die EU am deutschen Wesen genesen zu lassen, ist Komissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit ihren größenwahnsinnigen Zielvorgaben eines auf Kosten deutscher Steuerzahler massiv expandierenden EU-Haushaltes und ihrer demonstrativen Herablassung gegenüber osteuropäischen Mitgliedsstaaten, die die Zerstörung ihrer nationalen Identität und Eigenständigkeit fürchten. 

Brüssels Vertragsverletzungs-verfahren stellt einen massiven Angriff auf unsere nationale Souveränität dar.

Einen massiven Angriff auf die Souveränität des deutschen Nationalstaates stellt nun das von der Europäischen Kommission eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland dar – allein, weil das Bundesverfassungsgericht es gewagt hatte, ein Urteil zu fällen, das Anleihekäufe der EZB in Frage stellte.

Gegen dieses Vertragsverletzungsverfahren, das darauf abzielt, dem höchsten deutschen Gericht die Wahrung deutscher Souveränität abzusprechen, formiert sich jetzt Protest. In einem Aufruf in der FAZ appellieren 29 renommierte Staatsrechtler – darunter Christian Hillgruber, Josef Isensee und Dietrich Murswiek – an die EU-Kommission, das Verfahren zu stoppen. Die EU sei eine„Gemeinschaft der Staaten und kein Bundesstaat“, die EU habe „keine unbegrenzte Macht“, die Union habe sich verpflichtet, die „jeweilige nationale Identität“ zu wahren. Rücke Brüssel nicht vom Verfahren ab, so warnen die Staatsrechtler, dann würden „die Fliehkräfte der europäischen Integration in einer Zeit gestärkt, in der sich Europa bewähren muß“.

Der Versuch des Brüsseler Establishments, den ungarischen Premier Viktor Orbán als Buhmann der EU zu isolieren, ist ein Beleg dafür. Daß Orbán nun ein Bündnis nationalkonservativer europäischer Kräfte forciert und in ganzseitigen Zeitungsanzeigen vor der Errichtung eines „Superstaates“ und einem „europäischen Imperium“ warnt, unterstreicht die Dramatik der Eskalation, für die in erster Linie die Zentrale und nicht zuletzt Regierungspolitiker in Deutschland die Verantwortung tragen. Die EU ist dabei, den Rubikon zu überschreiten.