© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/21 / 09. Juli 2021

Die Grünen in der Quotenfalle
Geschlechter-Bonus für die Kanzlerkandidatur: Die Utopie hält der Realität nicht stand
Ronald Berthold

Es ist ja nicht so, daß Annalena Baerbock sich nicht schon vor ihrer Kanzlerkandidatur mehrfach blamiert hätte. Ihre Partei, Bündnis 90/Die Grünen, konnte also durchaus wissen, auf welch dünnes Eis sie sich begab, als sie dieser Frau für den Bundestagswahlkampf die erste Reihe überließ. Nun reiht sich Peinlichkeit an Peinlichkeit. Zuletzt wurde bekannt, daß Baerbock weite Teile ihres mit viel öffentlichem Aufsehen vorgestellten Buches „Jetzt“ aus anderen Quellen zusammenkopiert hat oder zusammenkopieren hat lassen. Es rächt sich, daß bei der Inthronisierung ausschließlich ihr Geschlecht zählte. Die Grünen sitzen in der selbstgestellten Quotenfalle.

Die Partei fühlte sich sicher. Journalisten hatten wohlgesinnt über jeden Patzer hinweggesehen. Als Baerbock Kobalt für die Batterien von Elektroautos im ARD-Sommerinterview vergangenes Jahr wiederholt mit „Kobold“ verwechselte, blieb die im Falle anderer Politiker übliche journalistische Häme aus. Auch die eigenwillige und exklusive Ansicht, man könne den von Wind- und Solaranlagen erzeugten Strom im Netz speichern, ließen die Medien der 40jährigen durchgehen. Kritik an den Grünen, zumal noch an einer Frau, galt als Tabu. Kopfschütteln fand sich nur in den sozialen Medien und in ein paar Blogs.

Journalisten drückten bei Baerbock stets ein Auge zu

In der Gewißheit, daß sich Geschlechter-Bonus und Jubelarien trotz aller Skandälchen bis zum Wahltermin fortsetzen würden, übertrug die Parteiführung der machtbewußten Vorsitzenden die Kanzlerkandidatur. Baerbock entschied das im Alleingang. Schließlich ist sie weiblich. Dieser Trumpf stach, weil bei den Grünen Frau vor Mann geht. Gegen diesen Umstand kam niemand an – auch nicht ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck. Der 51jährige litt unter dem Nachteil der männlichen Geburt und war daher von Anfang an chancenlos. Kompetenz, Berufserfahrung, Allgemeinbildung – all das spielte keine Rolle.

Allerdings leuchtet auch Habeck nicht als hellste Kerze auf der Torte. Mehrmals zeigte er erschreckende Unwissenheit – sogar, als es um Kernthemen der Grünen, wie die Pendlerpauschale ging. Er kritisierte sie als Autofahrerprivileg und wußte nicht, daß die auch für Bahnfahrten gilt. Im Thüringer Wahlkampf vor zweieinhalb Jahren war ihm sogar entgangen, daß seine Partei mit Linken und SPD das Land regierte. Er forderte – lange vor dem Intermezzo von Ministerpräsident Thomas Kemmerich (FDP) –, Thüringen zu einem „freien, demokratischen Land“ zu machen. Das sagt nicht nur viel über Habecks politisches Wissen. Es lüftet auch den Mantel totalitärer Haltung. Schon in Bayern hatte er dazu aufgerufen, durch die Wahl der Grünen die Demokratie wiederherzustellen.

Daß der Parteichef aber vom „Hühner, Schweine, Kühemelken“ kommt, wie Baerbock im NDR-Format „45 Min“ gehässig sagte, ist schlicht falsch. Als selbsternannte Frau „aus dem Völkerrecht“ versuchte sie, sich über ihren Kollegen zu erheben. Es war eine Szene zum Fremdschämen. Zumal die Sache mit dem Völkerrecht auch nicht stimmt, wie wir heute wissen. Habeck studierte Philosophie, Germanistik und Philologie auf Magister und hat 2000 promoviert. Allein schon damit liegt er vor dem zweifelhaften Bildungsweg seiner Konkurrentin. Anders als Baerbock, die – von einer äußerst sporadischen freien Mitarbeiterschaft bei der Hannoverschen Allgemeinen abgesehen – über keine Berufserfahrung außerhalb der Politik verfügt, kann Habeck immerhin ein Regierungsamt vorweisen; nicht unwichtig, wenn man Kanzler werden möchte. 

Von 2012 bis 2018 war er schleswig-holsteinischer Minister und Vize-Regierungschef. Zuvor hatte er die Fraktion im Kieler Landtag geführt. Außer einer Schriftstellertätigkeit als Co-Autor seiner Frau Andrea Paluch und als Autor einer Handvoll Sachbücher hat auch Habeck keine Meriten in der freien Wirtschaft erworben. 

Habeck springt Baerbock bislang nicht zur Seite

Daß ihn die verlorene Kanzlerkandidatur schmerzte, gab Habeck in einem Zeit-Interview schon kurz nach der Nominierung Baerbocks zu. Innerparteilich wurde das als Illoyalität gewertet. Auch bei den Fehlern der Kandidatin hält sich Habeck mit Verteidigungsreden zurück. Die lange zur Schau gestellte Harmonie des Duos entpuppt sich nun als brüchiger Burgfrieden. Die Bevorzugung von Frauen haben die Grünen zu einem moralisch überhöhten Dogma erklärt. Daß dies umgekehrt eine Diskriminierung von Männern darstellt – geschenkt. Denn es handelt sich um eine innerparteiliche Angelegenheit. Jeder Wähler kann selbst entscheiden, ob ihm das gefällt. Doch die Quote hat sich im Fall Baerbock zur Falle entwickelt. 

Sie hat zugeschnappt und die ganze Partei zur Geisel genommen. Denn Annalena Baerbock demaskiert sich im Rekordtempo weiter. Hinter dem schönen Bild, das die meisten Medien gemeinsam mit der Partei gemalt haben, kommt ein Maß an Unbildung und Selbstüberschätzung zum Vorschein, das Menschen, die die Kandidatin seit Jahren beobachten, nicht verwundern kann.

Erstaunlich ist allerdings, daß ihr kein Gutmeinender davon abgeraten hat, sich als Regierungs­chefin zu bewerben. Abgesehen davon, daß der Schwindel um ihre Vita auffliegen mußte, hätten sich auch die Grünen die Frage stellen können, wie eine Frau mit gravierenden Bildungslücken, die sich allein durch ihren machtpolitischen Ehrgeiz auszeichnet, eine Industrienation seriös und zum Wohl der Bürger führen soll. 

Doch die grüne Frau-vor-Mann-Regel und die Sicherheit, bei allen potentiellen Skandalen die Medien auf ihrer Seite zu haben, muß jedes Bedenken in den Wind geschlagen haben. An der Meldung, daß sie ihre Sondereinkünfte weder dem Bundestag gemeldet noch diese versteuert hatte, kamen dann aber auch die Annalena-Fans in den Redaktionen nicht vorbei. Nach einer aktuellen Insa-Umfrage im Auftrag der Bild-Zeitung ist Baerbock weit davon entfernt, ins Kanzleramt einzuziehen. Mit 58 Prozent hält sie die Mehrheit der Befragten für unglaubwürdig. Lange sah das anders aus. Doch dann kam heraus, daß sie ihren Lebenslauf frisiert hatte. Nun muß sie sich auch noch Plagiatsvorwürfen stellen. Die Grünen reagierten mit dem Vorwurf „Haß und Hetze“, versuchten die Kritik in die rechte und frauenfeindliche Ecke zu schieben.

Nach anfänglicher Euphorie folgt nun das Umfragetief

Wie schon bei der Kandidatur spielten sie auch jetzt wieder die Frauenkarte. Doch der Wunsch und die Unterstützung der meisten Journalisten hielten der Realität nicht statt. Tag für Tag mußte die Vita der Hochstaplerin korrigiert werden.

Dennoch behielten die Grünen zunächst weiter recht. Daß Baerbock die SPD im Bundestag nach ihrer Kandidatur zur Erfinderin der sozialen Marktwirtschaft ausrief, machte kaum Schlagzeilen. Statt ihr einen Crashkurs in bundesrepublikanischer Geschichte anzubieten, durfte sich die Frau weiter um Kopf und Kragen reden. 

Das Amt des Bundeskanzlers bezeichnete sie als das höchste im Staate, obwohl jeder Eingeweihte weiß, daß das der Bundespräsident ist. Auch diese Peinlichkeit blieb eine Randnotiz. Derweil bejubelte der Spiegel sie auf dem Titel als „Frau für alle Fälle“ und behauptete in der Unterzeile, daß „keiner mehr an ihr vorbeikommt“. Der Stern zeigte sie als strahlend-verwegenes Cover-Girl mit Lederjacke und freute sich in grünen Lettern: „Endlich anders“. Die ARD verteidigte zu Beginn ihrer Kanzlerkandidatur mit Verve Baerbock: „Schauen Sie sich die Ausbildung der Frau an. Wenn das keine Bildung ist...“, wehrte das „Das Erste“ auf Twitter Kritik ab. Es ist die Häufung der Ungereimtheiten, die nach der vorgeblichen Kompetenz auch die Glaubwürdigkeit in Frage stellt. Dem Hype nach ihrer Kandidatur, der sich von den Journalisten auf die Wähler übertrug und die Grünen bis auf 28 Prozent katapultierte, folgte in zwei Monaten der Absturz. Geblieben sind aktuell 18 Prozent.

Die Zeit, sich aus der Quotenfalle zu befreien, schienen die Grünen auf dem Parteitag Mitte Juni verpaßt zu haben. Rund 61 Prozent der Deutschen sagen, daß ihre Kandidatur ein Fehler sei. Und da sogar die taz vergangenen Sonntag titelte: „Es ist vorbei, Baerbock!“ und den Austausch durch Habeck forderte, könnte sich nun doch der Wind drehen. 

Daß sie ihre Rede mit „Scheiße“ kommentierte und das auch noch über die Saallautsprecher übertragen wurde, mag man als nicht enden wollende Pechsträhne einordnen. Aber wahrscheinlich haben wir nie so tief in die Seele dieser Frau geblickt wie in diesem Moment. Offenbar ahnt die Kandidatin, daß sie sich überschätzt hat und bald auch der größte Gender-Bonus aufgebraucht ist.

Foto: Grünen-Chefs Robert Habeck und Annalena Baerbock