© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/21 / 09. Juli 2021

Zum Leben erweckt
Literaturgeschichte: Im Gedenken an den 150. Geburtstag des französischen Romanciers Marcel Proust
Markus Brandstetter

Es gibt Schriftsteller wie Shakespeare, Schiller oder in unserer Zeit Jorge Luis Borges, deren Leben hat für ihre Werke eine allenfalls mittelbare Rolle gespielt. Die haben ihr Leben und Erleben so stark sublimiert, daß davon in ihrem Werk kaum noch etwas zu spüren ist. Und dann gibt es die Autoren, deren Leben die unverzichtbare Grundlage für ihr Werk war; deren Mühen, Sorgen, Leiden und Freuden ungefiltert den Weg in ihre Bücher finden. Zu ihnen gehört der junge selbstmordgefährdete Goethe, der sich mit seinem Werther zurück ins Leben schreibt, Thomas Mann, der mit seiner Familiengeschichte den Nobelpreis gewinnt, und James Joyce, der mit den Erinnerungen an das Dublin seiner Kindheit den wahrscheinlich größten modernen Roman überhaupt verfaßt.

Aber bei keinem dieser Autoren erreicht die Verbindung von Leben und Werk eine so einzigartige organische Qualität, wie dies bei dem französischen Romancier Marcel Proust (1871–1922) der Fall ist. Proust hat aus den Erlebnissen seiner Kindheit und Jugend vor dem Hintergrund des Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein vielschichtiges Panorama in Romanform destilliert, wie es kein zweites gibt – auch nicht von Honoré de Balzac, der für die Zeit der Restauration (1815–1830) und der Juli-Monarchie (1830–1848) Ähnliches versucht hat.

Prousts solitäre Qualität läßt sich bereits am ersten Band seines siebenbändigen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ verdeutlichen. Dieses Buch heißt im Original „Du côté de chez Swann“, was meist mit „Auf dem Weg zu Swann“ übersetzt wird, aber eigentlich meint: „Auf der Seite, wo Swann wohnt.“ Proust zitiert mit diesem Titel einen Ausspruch seines Großvaters, der bei Spaziergängen in dem Städtchen Illiers, das im Roman Combray heißt, seine Familie (und den jungen Marcel) regelmäßig fragt, ob sie auf der Straßenseite, wo der steinreiche Börsenmakler und Kunstkenner Charles Swann wohnt, nach Hause gehen sollen, oder auf der anderen. So erfährt der Ich-Erzähler des Romans zum ersten Mal von Swann, mit dessen Tochter Gilberte er viele Jahre später in den Parkanlagen neben den Champs-Élysées spielen wird.

Diese in der Ich-Form erzählten Erinnerungen Prousts an seine Kindheit, die 1890 bis 1894 spielen, unterbricht er nun höchst genial mit der personal erzählten Liebesgeschichte von Swann und Odette, die 1879 bis 1881 spielt und von der der Erzähler gar nichts wissen kann – und doch so tut, als wäre er andauernd hinter dem Vorhang gestanden. 

Begonnen hat Prousts langer Weg zu seinem meisterhaften Romanzyklus im Jahr 1899, auch wenn zuerst nichts darauf hingedeutet hat. Damals ist Proust bereits achtundzwanzig, wohnt aber immer noch zu Hause, hat ein Jahr Militärdienst geleistet, aber keinen Beruf, verdient kein Geld, ist dauernd krank und schreibt seit Jahren an einem Roman, mit dem er nicht fertig wird. Aber im September dieses Jahres fallen ihm die Werke John Ruskins in die Hände, die Proust fesseln, begeistern und vollkommen verändern. 

Dieser John Ruskin ist der führende britische Kunstkritiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Spezialist für gotische Architektur und das Italien der Renaissance, ein Philanthrop, Mäzen, Zeichner, Gelegenheitsdichter, Naturliebhaber und Sozialreformer, ein ruhelos Reisender, der ständig zwischen London, Venedig, Frankreich, Schottland und den Alpen hin und her pendelt, ein Tausendsassa also, selbst nicht wirklich originell, aber ein großer Inspirator und Erklärer, der Generationen von Künstlern beeinflußt hat. Einer davon, und heute der prominenteste, ist Marcel Proust. 

Ruskin öffnet die Schleusen der Kreativität in Proust. Der Mann, der heute als der größte französische Romanschriftsteller nach Balzac und Flaubert gilt, der beste und scharfsinnigste Chronist der Bel Epoque, der Autor, der Bilder, Charaktere und Sprachfiguren geschaffen hat, ohne die wir uns das Ende des 19. Jahrhunderts in der feinen Pariser Gesellschaft gar nicht mehr vorstellen könnten, galt bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg – und da war er schon über vierzig – seinen vielen Freunden und Bekannten als reiner Dandy, als ein kultivierter, aber lebensfremder Taugenichts, der die Millionen, die sein Vater als einer der besten Ärzte Frankreichs verdient hatte, verpraßte. Gewiß: Proust hatte Zeitungsartikel veröffentlicht, harmlose kleine Sachen: Skizzen, Feuilletons, Portraits, aber das war nichts, was auf den Proust von später hindeutete.

Und dann kam Ruskin und zeigte Proust, wie man die Welt mit neuen Augen sieht. Ruskin, der seinen Zeitgenossen groß wie Tolstoi, Nietzsche und Ibsen vorkam, ist heute vergessen, weil er ein plaudernder Prediger war, der andauernd abschweift und um den heißen Brei herumredet. Proust jedoch hat von Ruskin gelernt, wie man Bilder und Bauwerke sehen, verstehen und interpretieren muß, wie man das, was in den Dingen schläft, durch Nachdenken und Einfühlen zum Leben erwecken kann. Prousts Biograph Jean-Yves Tadié sagt: „Proust war jemand, der immer einen Vermittler brauchte, der ihn auf den richtigen Weg bringt, hat er den aber einmal gefunden, dann wird er weiter gehen als sonst jemand.“ Ruskin ist dieser Vermittler. 

Hat Proust einmal intellektuell Blut geleckt, dann ist er unerbittlich und verfolgt seine Spur bis zum Ziel. Seit der Jahrhundertwende unternimmt er deshalb Ruskin-Wallfahrten zu den großen gotischen Kirchen und Kathedralen Nordfrankreichs und nach Venedig, der Ruskin-Stadt schlechthin. Proust, der auf dem besten Pariser Gymnasium seiner Zeit war, dort aber kaum Englisch gelernt hat, kämpft sich nun mit Feuereifer und Lexikon durch Ruskins Werke im Original, obwohl seine Freunde von ihm behaupten, daß er doch auf englisch nicht einmal ein Kotelett bestellen könne. Auch die heißgeliebte Mutter wird eingespannt. Sie fertigt Rohübersetzungen von Ruskins Büchern an, die Proust dann am häuslichen Eßzimmertisch – sein Leben lang wird er weder einen Schreibtisch noch ein Arbeitszimmer benutzen – in der Rue de Courcelles in sein musterhaftes Französisch überträgt.

Ruskin hat Proust nun eine Methode gegeben, den Stoff des Lebens, der sich in Prousts Gehirn seit seiner Kindheit ansammelt, zu strukturieren und in eine poetische Ordnung zu bringen. Proust hat in Zehntausenden von Stunden, die er in der Gesellschaft von Herzoginnen und Kurtisanen, Sängerinnen und Tänzerinnen, in den Salons der eleganten Welt, zusammen mit Dichtern, Komponisten, Selbstdarstellern, Börsenmaklern und Lebemännern verbracht hat, ein Mosaik der Pariser Gesellschaft angefertigt wie kein zweiter. Nun soll daraus ein Roman werden, ein Panorama mit Hunderten von Figuren und Charakteren, mit diversen Schauplätzen und Szenen und einer Handlung, das die Vorbilder hinter den literarischen Figuren gerade noch erkennen, sie aber doch soweit verfremdet, daß der künstlerische Effekt den einer Dokumentation immer übertrifft. 

Der zweite Katalysator nach Ruskin ist der Tod seiner über alles geliebten Mutter im September 1905, über die Proust schreibt: „Sie trägt mein Leben mit sich hinweg.“ Ihr Tod freilich beraubt Proust auch der letzten moralischen Schranken, die er bislang noch gehabt hatte. Er wird sich nun, zumindest sich selbst und einem Kreis von Eingeweihten gegenüber, offen zu seiner Homosexualität bekennen und sie in einem Maße ausleben, daß George D. Painter, Prousts erster großer Biograph, sein Kapital darüber „Die Hölle von Sodom“ nennen und darin schreiben wird: „Während dieser Zeit seiner schrecklichen Höllenfahrt weckten lange unterdrückte und nur zeitweilig aufflackernde Impulse ein Verlangen nach Gewalt und Grausamkeit in ihm.“

Und damit haben alle Ingredienzen in Prousts Charakter, die er brauchte, um die Suche nach der verlorenen Zeit, wie sein Romanzyklus heißt, zu beginnen, ihren endgültigen Mischungszustand erreicht. Von 1908 bis zu seinem Tod am 18. November 1922 wird er sowohl seine Wohnung als auch Paris kaum noch verlassen, die Nächte, an Asthma leidend, in seinem mit Kork isolierten Schlafzimmer durchschreiben, auch im Sommer nur mit Handschuhen und im Pelzmantel vor die Tür gehen – aber am Ende dieser Jahre wird ein Zyklus von sieben Romanen abgeschlossen sein, dessen Strahlkraft von Jahr zu Jahr noch zunimmt.

Am 10. Juli jährt sich Marcel Prousts Geburtstag, der in der französischen Hauptstadt geboren und ebenda auch auf dem Friedhof Père Lachaise begraben wurde, zum 150. Mal. 

Foto: Porträt des französischen Schriftsteller Marcel Proust (1871–1922) als junger Mann in Illiers-Combray 1879: Die Parkanlage dort (u.r.) wurde von seinem Onkel Jules Amiot angelegt. Sie ist in Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ beschrieben.