© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/21 / 09. Juli 2021

Sozialen Zusammenhalt durch Nacktwandern stärken
Erlebnisse der Gleichheit
(dg)

In seinem Bestseller „Die Frau im Sozialismus“ (1883), dem meistgelesenen sozialistischen Buch der Kaiserzeit, weist August Bebel darauf hin, daß die Proletarier über mehr als nur das Potential zur Veränderung politischer Machtverhältnisse verfügen. Sie könnten die Gesellschaft auch durch Ausbildung alternativer kultureller Praktiken umgestalten. Die frühen SPD-Parteiprogramme, inspiriert von der bürgerlichen Lebensreformbewegung um 1900, spiegeln diesen Ansatz wider, wenn sie für Alkoholabstinenz, Fleischverzicht, Naturheilverfahren und Freikörperkultur werben. „Sozialistische Nacktkultur“, wie sie dann in der Weimarer Republik populär wurde, sollte einen wichtigen, Körper und Seele für den Klassenkampf ertüchtigenden Beitrag zur Emanzipation der Arbeiterschaft leisten. Von solchen ideologisierten Visionen sind die 30.000 Mitglieder der 130 bundesdeutschen FKK-Vereine heute zwar Lichtjahre entfernt. Trotzdem nehmen Kulturwissenschaftler wie der über „Vorurteile, Stigmatisierung und Rassismus“ forschende Londoner Sozialpsychologe Keon West oder die Psychologin Svenja Hoffmann, die an der Hochschule der Bundeswehr in München „Körperbilder und Eßstörungen“ untersucht, die „Freude am Unbekleidetsein“ zunehmend im politischen Kontext wahr. Darum propagieren sie beliebter werdende Aktivitäten wie das „Nacktwandern“. Wie in der Sauna entstünden dabei zugleich mit dem körperlichen Wohlgefühl „erhebende Effekte“, die sich dem Erlebnis der Gleichheit verdanken. Denn im hüllenlosen Zustand lerne nicht nur jeder, das „nicht perfekte Körper“ die Regel sind, es verschwinden auch alle ökonomischen Unterschiede (Psychologie heute, 6/2021). 


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