© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/21 / 09. Juli 2021

Weltgesellschaft der Leugnung des Lebens und des Todes
Körperlose Internet-Subjekte
(ob)

Daß nicht nur in den USA mit dem dramatischen Appell „Das Risiko ist real“ jetzt Impfskeptiker motiviert werden müssen, ihre Weigerungshaltung aufzugeben, wundert die emeritierte Anthropologin und Bioethikerin Rita Laura Segato (Universität Brasilia) nicht. Der Aufruf setze nämlich eines voraus: „Die unseren Zeitgeist prägende, idiotische Leugnung des Todes“ (Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2021). Die Pandemie, die jedem überall vermittelte, verletztlich zu sein, treffe die „Glaubensfundamente“ einer vom „apokalyptischen Kapitalismus“ geprägten Weltgesellschaft. In deren zu posthumanen Allmachtsphantasien gesteigertem Bewußtsein habe die Ignoranz gegenüber der Tatsache, daß der Mensch nicht außerhalb von Raum und Zeit stehe, bereits lebensfeindliche Auswüchse gezeitigt. Das seien Illusionen, die die Virtualität der digitalen Kommunikation kräftig nährten. Denn „Internet-Subjekte“ neigten zur Annahme, sie könnten miteinander reden, als existiere der Körper nicht. Sie hätten sich daher mental an eine Technologie gewöhnt, die es ihnen ermöglicht, die Materialität des eigenen wie fremder Körper nicht mehr zu spüren. Damit habe sich eine „psychotische Formung des Empfindungsvermögens“ radikalisiert, die das Individuum unter kapitalistischen Bedingungen von jeher zum Objekt des Ausbeutungsprozesses verdinglichte. Wenn das Coronavirus von großen Teilen der Bevölkerung als nicht reales Risiko eingestuft werde, sei das nur die Folge des ursprünglich systemrelevanten „Programms der Desensibilisierung gegenüber dem Leben“, das dazu führe, das Lebendige in der Körpern uneingeschränkt in leblose Gegenstände zu verwandeln. 


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