© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/21 / 09. Juli 2021

Rufe aus der Echokammer
Die Aufsatzsammlung „Toleranz“ fragt: „Schaffen wir das?“ Die Antwort lautet: Eher nicht.
Dietmar Mehrens

Auch Vorurteile, ja sogar rassistische Vorurteile sollten Gegenstand der Toleranz sein, wo es eine liberale Gesellschaft mit der Gewissensfreiheit ernst meint. Eine Provokation, gewiß, doch sie hätte in Erinnerung rufen können, worum es bei Toleranz dem Wortsinn nach geht: um das Ertragen eines unerträglich dünkenden Standpunktes um des gesellschaftlichen Friedens willen. Der Mut zu einer solch unpopulären Begriffsklärung hätte den von dem äthiopischen Prinzen Asfa-Wossen Asserate gemeinsam mit der Literaturagentin und Feministin Annette Friese herausgegebenen Band zum Thema Toleranz retten können. Und Bände spricht es, daß zwar für einen derart extremen Toleranzbegriff in dem Buch kein Platz ist, aber viel Raum für die extremen Positionen der Gegenseite, auf der einige fast schon unverschämt eine Verschiebung des demokratischen Konsenses nach links fordern. 

Zwei besonders ausfällige Beiträge, demonstrativ mit dem skurrilen Erkennungssignal der fundamentalistischen Linken, dem Genderstern, verunstaltet, schrecken nicht davor zurück, ihren Platz in dem Buch zur Propagierung neuer Dogmen zu mißbrauchen, und führen damit seinen Titel mustergültig ad absurdum: Der in der Türkei geborene Migrantenaktivist Ali Can, der 2019 in Essen ein interkulturelles Verständigungszentrum gründete, steckt in „Toleranz reicht nicht!“ forsch die Grenzen neu ab, indem er apodiktisch verkündet: „Die Akzeptanz von Vielfalt ist nicht verhandelbar.“ Und die Politologin Sabine Marx offenbart die typischen blinden Flecken auf der Netzhaut notorischer Rotseher, indem sie auf wenigen Seiten fast das gesamte Inventar linker Framingbegriffe zu dem Thema abruft – ein wahrer Spießrutenlauf für den gesunden Menschenverstand – und damit den Toleranzbegriff ideologisch vereinnahmt.

Selbstbewußt geschwenkter sozialistischer Flammenstrahl 

Auch Dietmar Bartsch fordert Nichtlinken alle verfügbaren Toleranzkräfte ab, indem er seinen strukturell desolaten Text als Propaganda-Flammenwerfer gegen das Recht ungeborener Menschen auf Leben einsetzt, das seine Partei diesen abspricht. Entschiedene Christen und unangepaßte Querdenker (Thilo Sarrazin dient nicht nur ihm als Reizfigur) geraten zur Abwehr ihrer Angriffe auf das „Selbstbestimmungsrecht der Frau“ beziehungsweise der „Verächtlichmachung“ von Zuwanderern in den sozialistisch selbstbewußt geschwenkten Flammenstrahl: Als wäre die „DDR“ nie untergegangen, plädiert der Linken-Politiker Bartsch dafür, die Überzeugungen von Menschen mit falschem Glaubensfundament ins Private zu verbannen und gesellschaftlich durch einen säkularen „Vernunftanspruch“ einzuhegen. Das hat viel mit SED-Staat und wenig mit Toleranz zu tun. Die Mitwirkung des einstigen SED-Kassenwarts demonstriert außerdem die prinzipielle Schieflage des Projekts, weil ein Alexander Gauland als rechtes Pendant zu Bartsch nicht um einen Beitrag gebeten wurde. 

Beißreflexe gegen Rechts auch bei Charlotte Knobloch: Sie durfte ihren Anti-AfD-Ausfall aus dem Bayerischen Landtag (Januar 2019) zur Wiederaufführung bringen, auch diesmal „ohne Beweise dafür vorzulegen“. Bei Aleida Assmann und Christina Brudereck hätte in der Schule unter ihren Aufsätzen gestanden: „Thema verfehlt.“ Der Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Assmann fällt zu einem so defensiven Begriff wie Toleranz wenig ein. Also schreibt sie lieber über Respekt und fordert ihn auch gleich für die Richtigen ein. Die Theologin und Schriftstellerin Christina Brudereck schweift vom gestellten Thema assoziativ in Betrachtungen zur deutschen Sprache ab und fordert: „Die Sprache dient der Haltung.“ Die gelte es beispielsweise zu zeigen – muß man’s noch erwähnen? –, wo LGBT-Rechte Gegenstand von Scherz und Satire würden. Liberale Demokratie? Andere Meinungen aushalten? O nein!

Wo eine neue Orthodoxie den ihr gebotenen Raum dazu nutzt, die frisch markierten Tabuzonen gleich mit tückischen Sprengfallen zu sichern, wird es für alle, die ihre Ansicht nicht teilen, schwer, aus der Deckung zu kommen. Sie mühen sich redlich, die Kulturbewahrer, die differenzierenden Denker unter den Autoren: Bassam Tibi, Eckhard Nord-hofen und Martin Mosebach. Der Büchner-Preisträger verweist in seinem Beitrag zur Toleranz in den großen monotheistischen Religionen auf den Konflikt, der sich aus religiösem Absolutheitsanspruch und liberaler Gesellschaft ergibt, sieht aber wie der Philosoph und Theologe Nordhofen keine Lösung im modernen Relativismus, weil sogleich neue (zivilreligiöse) Wahrheiten den Platz einnehmen, den das verdrängte Alte freigemacht hat.

Eine starke Toleranz hält auch starke Unterschiede aus

Der liberale Moslem Bassam Tibi wendet sich gegen die „in Deutschland gelebte multikulturelle Form der Toleranz“, die aus arabischen Ländern importierten Antisemitismus nicht sehen will. Diese selbstzerstörerische Blindheit entspringe einer gesinnungsethischen Selbsthypnose, die den NS-Schuldkomplex therapieren soll. Eckhard Nord-hofen schließlich nimmt die rosarote Brille ab, durch die menschliche Selbstoptimierungskräfte heute gern gesehen werden. Der Blick wird frei für eine realistische Sicht, die das „Wir und die Anderen“ als anthropologische Konstante jedes Zusammentreffens kohäsiver Gruppen wahrnimmt. Der Religionsphilosoph wirbt für die „Vorzüge der starken Toleranz“, die er als Antithese formuliert zu Hans Küngs Weltethos-Konzept. In diesem sieht er ein Beispiel für „schwache Toleranz“, weil es den Kernbestand des eigenen Glaubens anzutasten bereit ist. „Starke Toleranz“ wie in dem von Herausgeber Prinz Asserate initiierten „Pactum Africanum“ zwischen einem Emir und einem Erzbischof „beweist ihre Stärke dadurch, daß sie auch starke Unterschiede aushält“. Diese gelte es im Sinne des lateinischen Ursprungsworts „tolerare“ zu ertragen, statt sie wegzudiskutieren (schwache Toleranz) oder mit Gewalt zu beantworten (gar keine Toleranz).

Auch der Schriftsteller und habilitierte Orientalist Navid Kermani gehört mit seinem ebenso scharfsinnigen wie differenzierten Blick auf „Europa als offener kultureller Raum“ eher dem Lager der Kulturpessimisten unter den Beiträgern an. Von der „Naivität“ der Kanzlerin angesichts der Migrationskatastrophe von 2015 zeigt er sich erschüttert.

Die Lektüre ist anregend, der Gesamteindruck der insgesamt 18 Beiträge aber enttäuschend. Die Bereitschaft, sich auf andere Wahrnehmungen einzulassen, ist eigentlich die unabdingbare Voraussetzung eines ernst gemeinten Toleranzgebots. Doch viele Texte lassen sich schon nach wenigen Sätzen abhaken als Rufe aus der Echokammer. 

Asfa-Wossen Asserate/ Annette Friese (Hrsg.): Toleranz – Schaffen wir das? Die wichtigsten Stimmen Deutschlands zur Frage des Jahrhunderts. adeo Verlag, Asslar 2021, gebunden, 288 Seiten, 22 Euro