© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/21 / 09. Juli 2021

Die Euro- und Corona-Krise sowie die Ideen zur „Klimaneutralität“ lassen bürokratische Lenkungsphantasien sprießen
Kleiner Staat ganz groß
Reiner Osbild

Zugegeben, die Anforderungen an den Staat in der Sozialen Marktwirtschaft sind hoch. Er muß durch geeignete Rahmenbedingungen den Marktprozeß überhaupt erst ermöglichen. Dazu gehören vor allem die Sicherung privater Eigentumsrechte, die Durchsetzung freier Verträge im Rahmen eines funktionierenden Rechtssystems, eine stabile Währung. Dann muß der Staat idealerweise den Marktprozeß gestalten, um Machtpositionen zu Lasten der Bürger und Konsumenten zu neutralisieren.

Das leistet die Wettbewerbspolitik, die auf die Vereitelung von Monopolen und Kartellen abzielt; hinzu kommt eine Vielzahl von Eingriffen in die Vertragsfreiheit, um Informationsasymmetrien entgegenzuwirken, etwa im Versicherungswesen. Schließlich wird in den Lehrbüchern darauf abgestellt, daß der Staat den Marktprozeß korrigiert, indem er zugunsten der schwächeren Wirtschaftsteilnehmer in die Verteilung von Einkommen und Vermögen eingreift, Marktversagen wie Umweltverschmutzung korrigiert, das konjunkturelle Auf und Ab stabilisiert und für die Versorgung mit öffentlichen Gütern sorgt, die allein durch private Initiative nicht zustande kommen.

Klassisches Beispiel ist hier der Deich, bei dem auch diejenigen Anlieger über Steuern und Abgaben an der Finanzierung beteiligt werden, die ansonsten eine Trittbrettfahrerposition eingenommen hätten. Was der Staat nicht kann, ist eine umfassende Kontrolle der Produktion im Sinne von Fünfjahresplänen à la DDR. Diese sprengten die Planungskapazitäten der Behörden. Im real existierenden Sozialismus konnte man gut beobachten, was diese Anmaßung von Wissen bewirkte: Überschußproduktion oft minderwertiger Güter auf der einen, Mangelwirtschaft und leere Regale auf der anderen Seite. Wenn der Staat Autos baut, kommt für drei Jahrzehnte der Trabi dabei heraus.

Wo stehen wir zur Zeit? Wir ermächtigen den Staat zu immer mehr. Immer mehr Krisen sollen vom Staat bewältigt werden. In der Finanz- und Eurokrise erfolgte das im Prinzip dreiste Versprechen, die Guthaben aller Bürger zu schützen; mit zig Milliarden wurden Banken und ganze Staaten „gerettet“, der Kollaps des Finanzsystems gerade noch vermieden. Das machte Appetit auf mehr. Jetzt will der deutsche Staat auch noch das Klima „retten“, die Not der Welt durch vermehrte Einwanderung lösen und Europa vor den Folgen der Coronakrise retten.

Bei alldem assistiert von einer Notenbank, die Geld druckt, als gäbe es kein Morgen. Andererseits erleben wir aber den Staat, dessen Grenzen uns tagtäglich vor Augen gestellt werden: nicht genügend Impfstoff besorgt und sich dabei, wie auch an anderer Stelle, im bürokratischen Zuständigkeitsgerangel verheddert; Korruption und Selbstbereicherung im Zuge der Maskenkäufe; Bildungssystem im Sturzflug, No-go-Areas, Rentenlücke, Mietpreisexplosionen und so weiter. Wie kann es sein, daß ein Staat, der uns vor wirklichen und vermeintlichen Mega-Krisen zu schützen vorgibt, nicht einmal elementarste Dinge zustande bekommt? Nun, weil in Regierung, Parlament und Bürokratie niemand über „höheres“ Wissen verfügt, wie wir bereits beim Plädoyer für eine CO2-Steuer von Null (JF 24/21) darlegten. Statt an das Gemeinwohl zu denken, bestehen verwaltungsintern oft Anreize, nur ja keine Fehler zu machen. Die Verschwendung von Steuermitteln wird so gut wie nie geahndet. Viele Beamte sind ja gerade zum Staat gegangen, weil sie nicht mit den Risiken der freien Wirtschaft klarkommen.

Trotzdem die Rettungsorgie: Euro, Klima, Corona. Statt die Marktkräfte zu ertüchtigen, werden schwindelerregende Summen ins Spiel gebracht. Allein die Corona-Hilfen der EU belaufen sich auf fast 830 Milliarden Euro zu heutigen Preisen, teils als Kredit, teils als Geschenk. Die EZB kauft im Rahmen ihres Corona-Notstandsprogramms PEPP rund 1,8 Billionen Euro an öffentlichen Anleihen auf, die die notorisch klammen Südeuropäer zu solch geringen Zinsen nie auf dem privaten Kapitalmarkt hätten unterbringen können. 

Die mühelos eingeschleusten Zentralbankbillionen haben die Staatslenker euphorisch werden lassen. Es ist leicht wie nie, in den Genuß gedruckter Kaufkraft zu kommen. Denn immer weniger entscheidet der Markt – sprich: Konsumenten und Unternehmer – darüber, was, wann für wen produziert werden soll, sondern eine aufgeblähte öffentliche Verwaltung, deren Ausgaben die Wirtschaftsstruktur maßgeblich gestalten. Da können Milliarden und Billionen an Subventionen fließen zur Herstellung von Elektroautos oder CO2-neutralem Stahl, deren Produktion und Verkauf ansonsten nie funktionieren würde. Da kostet die Energiewende grob gerechnet über eine Billion Euro und schöpft die Kaufkraft gerade dort ab, wo sie doch nach einhelliger Meinung hingehört: beim kleinen Mann, beim Mittelstand.

Auf EU-Ebene erfolgt eine faktische Investitionslenkung der 806,9 Milliarden aus dem „Next Generation EU“-Pakt, weil die Ausgaben gesteuert werden in Richtung „Klimaneutralität“ (JF 27/21). Die Wirtschaft wird so gebürstet, wie es die Bürokraten wollen. Während die Politbüros früherer Zeiten wenigstens noch verzweifelt versuchten, die Wünsche der eigenen Bürger zu antizipieren und planerisch umzusetzen, wird nunmehr der Bürger gar nicht erst gefragt. Wenn doch, wie der Schweizer kürzlich über die CO2-Steuer, würde er vermutlich „Nein“ sagen. Aber die Präferenzen des Konsumenten, Kompaß und Motor der Marktwirtschaft, werden „höherer“ Ziele zuliebe außer Kraft gesetzt. Wir bezeichneten das als fundamentalistische Wirtschaftspolitik (JF 12/21). Das von Klaus Schwab und anderen auf dem Weltwirtschaftsforum projizierte „New Normal“ ist die Entmündigung des Bürgers zugunsten einer wissensanmaßenden Elite, die besser weiß, wie die Welt von morgen aussieht bzw. auszusehen hat.

Staatsversagen gibt auch es im Bereich der internationalen Abkommen, die für eine solche Reißbrett-Ökonomie wirksam abgeschlossen werden müßten. Das Weltklima ist ein öffentliches Gut, und nur wenn alle an einem Strang ziehen, kann das CO2 – wir unterstellen mal seine Schädlichkeit – reduziert werden. Während jedoch Deutschland und einige andere meist europäische Länder berserkerhaft Billionen an Belastungen schultern, wird in China und anderswo ein Kohlekraftwerk nach dem anderen hochgezogen. Es gibt keine supranationale Instanz, die Verletzungen vertraglicher Vereinbarungen oder freiwilliger Selbstverpflichtungen sanktionieren könnte. Papier ist geduldig.

Es klappt ja nicht einmal auf EU-Ebene. Als Frankreich und Deutschland in den 2000er Jahren die Neuverschuldungsgrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ignorierten, wurden die fälligen Bußgelder einfach nicht verhängt. Kein einziges Mal wurden Verletzungen der Maastricht-Kriterien sanktioniert. So kam es schließlich zur Eurokrise 2009/10. Der kraftmeiernde Staat schafft oft erst die Probleme, die er dann mit riesigem Tamtam und der Notenpresse im Rücken löst. Besonders evident ist das auch bei „Corona“: Nicht der Virus an sich, sondern das zweifelhafte Hoch- und Runterfahren von Wirtschaft und Gesellschaft, neudeutsch Lockdown, verursachte die Schäden, die nun behoben werden (sollen).

In der neuen Normalität fällt auf, daß die Handlungsspielräume staatlicher Akteure, gedeckt durch die künstliche Kaufkraft aus der Notenpresse, massiv ausgeweitet und die des privaten Sektors massiv beschnitten werden. Das betrifft die „klimagerechte“ Investitionslenkung, aber auch unzählige Regulierungen im Preissystem bis hin zu Mietobergrenzen, die noch nie etwas Gutes bewirkt haben; es wird starker moralischer Druck in puncto Testen und Impfen ausgeübt, es betrifft immer komplexer und komplizierter werdende Vorschriften in allen Lebensbereichen. Es geht um die Ausweidung des Rest-Bürgers durch die beschlossenen und absehbaren Steuererhöhungen sowie die sich abzeichnende Inflation. 

Der Gesundheits-, Euro- und Klimafundamentalismus setzt voll auf staatliche Lenkung. Die ausführenden Bürokratien maßen sich ein Wissen an, das sie nicht haben. Unerwünschte Nebenwirkungen werden auf den Bürger abgewälzt, da der Staat de facto nicht haftet für die Zerstörung von Existenzen und die Verarmung seiner Bürger. Während Otto und Carola Normalverbraucher mit ihrem Einkommen sowohl für ihre eigenen Fehler als auch die des Staates zahlen, halten sich Politiker und Bürokraten schadlos durch gesetzlich abgesicherte Freistellung von Haftung bei unantastbaren Einkommensströmen in Form hoher Gehälter, Diäten und Pensionen, unabhängig von der Qualität ihrer Leistung.

Die Aufdeckung des Wissens im Wettbewerb wird ersetzt durch die Monopolisierung des Wissens wirtschaftsferner Eliten. Aus ihren rosaroten Projekten erwächst keine bunte Vielfalt, sondern verwaltungsgrauer Einheitsbrei. Für die Zerstörung der Wirtschaft braucht es kein Politbüro; sie ist auch im Rahmen pseudodemokratischer Hybris möglich. Denn das „New Normal“ wird keiner Abstimmung unterzogen, sondern dem Bürger gleichsam als Sachzwang vorgesetzt. Auf dem Wahlzettel darf er dann entscheiden, wer ihn am angenehmsten enteignet. 






Prof. Dr. Reiner Osbild, Jahrgang 1962, ist Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Emden/Leer. Von 2012 bis 2015 lehrte er Volkswirtschaft an der privat geführten SRH-Hochschule Heidelberg. 2010/11 war er für ein Jahr Gastprofessor in Dalian (China). Zuvor arbeitete er im Kapitalmarktgeschäft großer Geldhäuser. 1993 wurde Osbild mit einer Arbeit zum Thema „Staatliche Eingriffe in den Arbeitsmarkt“ promoviert.

Foto: Großer Krake: Andererseits erleben wir aber einen Staat, der nicht genügend Impfstoff besorgt und sich im Zuständigkeitsgerangel verheddert; Korruption und Selbstbereicherung; Bildung im Sturzflug, No-go-Areas, Rentenlücke oder Mietpreisexplo-sionen werden hingenommen.