© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/21 / 09. Juli 2021

Heraus aus dem Schlamassel
Frank Uekötter legt eine Umweltgeschichte der modernen Welt vor
Christoph Keller

Rolf Peter Sieferles in diesem Frühjahr neu aufgelegte Pionierstudie „Der unterirdische Wald“ hätten deutsche Historiker 1982 eigentlich als Startschuß hören müssen, um sich auf breiter Front der von ihnen sträflich vernachlässigten Umweltgeschichte zuzuwenden. Zumal sie dafür damals schon auf den starken Rückenwind des Zeitgeistes vertrauen durften. Alles redete von „Grenzen des Wachstums“, vom sauren Regen und sterbenden Wäldern, und die Partei der Grünen, 1980 gegründet, stand in den Startlöchern, um 1983 erstmals in den Bundestag einzuziehen.

Doch Sieferles fulminantes Werk zur Energiekrise der frühneuzeitlichen Welt, die zum Umstieg von Holz auf Kohle zwang und damit die industrielle Revolution auslöste, stieß in einer Zunft auf taube Ohren, die sich nicht aus ihrer provinziellen Maulwurfsperspektive, irgendwo zwischen NS-Bewältigung und „Geschichte als Historische Sozialwissenschaft“, befreien wollte. Es dauerte darum noch bis zur Jahrtausendwende, bevor Joachim Radkaus „Weltgeschichte der Umwelt“ („Natur und Macht“, 2000) eine Gesamtdarstellung des menschlichen „Stoffwechsels mit der Natur“ (Karl Marx) wagte. Seitdem entwickelte sich Umweltgeschichte, die vor allem in den USA bereits in den 1960ern haussierte, auch in Deutschland zu einer Modedisziplin mit stetig steigendem Ausstoß an Monographien und Aufsätzen. 

Da sich die Spezialstudien bis in die Kleinmalerei einer „Umweltgeschichte des Kürbis“ inzwischen zu Bergen türmen, war es höchste Zeit, wieder einmal à la Sieferle und Radkau das große Ganze in den Blick zu nehmen. Diese Aufgabe hat der seit 2013 in Birmingham lehrende Frank Uekötter nun mit seiner monumentalen, 800seitigen „Umweltgeschichte der modernen Welt“ angepackt. Der 1970 geborene Autor ist einschlägig ausgewiesen, promovierte 2003, mit dem richtigen Instinkt für die just anziehende Konjunktur des Forschungsthemas, zur Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA, und trat zuletzt mit einer Schilderung des auf Stuttgart 21 und Berliner Flughafen BER vorausweisenden altbundesrepublikanischen Planungsdebakels „Elbe-Seitenkanal“ hervor.

Das Buch ist die Frucht einer zehnjährigen Odyssee. Uekötter steuerte durch ein Meer von Literatur, und hin und wieder blieb ihm sogar Zeit zum Aktenstudium in Archiven zwischen Georgia und Sachsen. Man kann nicht sagen, daß der Autor den Ertrag dieses gewaltigen Lektürepensums leserfreundlich aufbereitet. Der erste Eindruck ist eher der eines ausgeschütteten Zettelkastens. Aber der ist beabsichtigt. Ist doch das Inhaltsverzeichnis ausdrücklich nicht als Kompaß für den Leser gedacht, sondern als Tribut an die legitimen Wünsche der Druckerei, die wissen wollte, wie die Seiten vor dem Binden sortiert werden sollten. 

Uekötter verzichtet auf die Ausmalung von Horrorszenarien

So gibt es zwar scheinbar „ordentlich“ gegliedert vierzig Kapitel in acht Teilen, die auch den in einer Universalgeschichte der Moderne und ihrer ökologischen Kollateralschäden zu erwartenden Themenkanon brav abhandeln: von den Verheerungen der industriellen Landwirtschaft, den vom Bergbau angerichteten Verwüstungen bis zum Artenschwund und den zahllosen Katastrophenwegen, die der „fortschrittliche“ Mensch einschlug, um sich zur gefährlichsten invasiven Art des Planeten zu mausern. Trotzdem ist eine Struktur nur schwer auszumachen. Das liegt für Uekötter jedoch in der Natur der Sache. Da für ihn, insoweit Alexander von Humboldts Organizismus folgend, alles mit allem zusammenhängt, muß der Schreibstil Teil der Analyse werden. Denn es gehe nicht nur um die „Beschreibung einer dynamischen Entwicklung, sondern auch darum, sie narrativ erfahrbar zu machen“. Gelegentliche Schwindelgefühle des aus seiner eurozentrischen Indolenz gerissenen Lesers seien dabei genausowenig zu vermeiden gewesen wie der eine oder andere argumentative Salto mortale. 

Darum wimmelt es im Text von Querverweisen und kühnen, manchmal sarkastischen, zumeist witzigen und immer erhellenden, Zeiten und geographische Räume munter überspringenden Kombinationen. Ein atemberaubendes Kapitel bringt das Käfighuhn mit dem Neoliberalismus, Meeresschildkröten, o.b.-Tampons und den Falklandkrieg zusammen („ja, es gibt eine Verbindung“), ein anderes führt vom Space Shuttle zur Frauenkooperative in Bangladesch, in einem dritten, das sich der blutigen Geschichte des Walfangs widmet, begegnen sich der „Land und Meer“-Experte Carl Schmitt und der Reeder Aristoteles Onassis, in einem vierten erfahren wir, wie der junge Neville Chamberlain mit einer Sisal-Plantage auf den Bahamas Bankrott machte und in die Politik wechselte. Als britischer Premierminister habe er später versucht, Adolf Hitler von seinem Kriegskurs abzubringen: „Es ging so ähnlich aus wie die Sache mit dem Sisal.“

Nur ein solcher Stil vermittelt das Erlebnis von Uekötters Leitmetapher, der zufolge die menschliche Zivilisation sich in einem „gigantischen Strudel“ befinde, der Massen, Technologien, Umwelten umfaßt und gängige Vorstellungen von Kausalität und Handlungsmacht in Frage stellt. Dieser Dynamik habe sich der Historiker anzupassen. Was ihn leider zur Aporie treibe. Wie die Sache ausgehe, ob und wie der Mensch aus dem „Schlamassel“, in das ihn das Projekt, sich die Erde mit aller Gewalt rücksichtslos untertan zu machen, wieder herauskomme, könne der Historiker auch nach der gründlichsten Analyse des Geschehenen nicht prognostizieren. Das bedeute vor allem, der so beliebten Teleologie, gleichviel ob positiv oder negativ, zu entsagen. Da Umwelthistoriker nicht wüßten, ob ihre Erzählungen versöhnlich enden, sollten sie es nicht darauf anlegen, mit ihren Werken politisch wirken und sie als Beitrag zur „Weltrettung“ verkaufen zu wollen. Genausowenig überzeugend sei die negative Teleologie, die aus der Geschichte ableite, daß Zivilisationen generell an ihrem ökologischen Fehlverhalten zugrunde gehen. Zwar dominiere die Apokalypse gegenwärtig die Imagination westlicher Gesellschaften, aber solche Horrorszenarien resultieren nicht aus umwelthistorischem Wissen. 

Das wahrscheinlichere Szenario, das sich aus der Musterung des angehäuften Erfahrungsschatzes ergebe, sei, daß sich kleine und mittelgroße Probleme in den nächsten Jahrzehnten für die Spezies Mensch bedrohlich aufschaukeln. Und dazu gehört aber ebenso ein sehr, sehr großes Problem, mit dem Zeug zur Menschheitskatstrophe, das Uekötter in seinem enzyklopädischen Werk unfaßbarerweise glatt vergessen hat: die Bevölkerungsexplosion im Globalen Süden. 

Frank Uekötter: Im Strudel. Eine Umweltgeschichte der modernen Welt. Campus Verlag, Frankfurt/Main 2020, gebunden, 837 Seiten, Abbildungen, 49 Euro

Foto: Bergbaugebiet Minas Rio Tinto in der südspanischen Provinz Huelva: Der Mensch als die gefährlichste invasive Art des Planeten