© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/21 / 09. Juli 2021

Gezeichnete Gebietsansprüche
Der Histoiker Maciej Górny über die Rolle der Geographen nach 1918 im Dienste ihrer Nationen
Werner Lehfeldt

Das Buch des polnischen Historikers Maciej Górny ist eine – wie der Autor es formuliert – „kollektive Biographie“ einer Gruppe von Geographen, „Spezialisten für die schwierige Kunst der Grenzziehung“, aus Ostmittel- und Südosteuropa, die ihr Studium vor dem Ersten Weltkrieg absolvierten und den Höhepunkt ihrer Karriere in der Zwischenkriegszeit erleben sollten. Genauer gesagt, es geht um die Entwicklungsgeschichte dieser in etwa gleichaltrigen Geographen, eine Geschichte, die mehrere Wendepunkte aufwies, deren wichtigster Auslöser der Weltkrieg wurde, in dessen Verlauf und in der Zeit danach zahlreiche Angehörige dieser Gruppe zu führenden Experten im Dienst ihrer Nationalstaaten wurden.

Die meisten serbischen, polnischen, tschechischen, ukrainischen, bulgarischen und ungarischen Geographen – Jovan Cvijić, Jan Czekanowski, Lubor Niederle, Stepan Rudnyc’kyj, Anastas Iširkov, Pál Teleki und andere – absolvierten ihr Studium an Universitäten in Deutschland bzw. in Österreich-Ungarn und waren in dieser für sie prägenden Phase von der deutschsprachigen geographischen Wissenschaft fasziniert, zunächst von einer Richtung, die fast völlig frei war von politischen Konnotationen, der Geomorphologie, der Lehre von der Gestalt der Erdoberfläche. Der wichtigste Vertreter dieser Richtung war Albrecht Penck, der bis 1906 an der Universität Wien, danach in Berlin lehrte und an beiden Orten eine große Gruppe gerade auch ausländischer Schüler um sich sammelte. Bereits vor dem Krieg zeichnete sich aber eine Schwerpunktverlagerung ab hin zur Humangeographie, die den wechselseitigen Einfluß von Gebiet und Menschen in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses stellte und damit zu politischer Aufladung geradezu einlud. 

Akut wurde diese Aufladung bereits vor Kriegsbeginn, so etwa in einer dem Anschein nach rein akademischen Auseinandersetzung zwischen dem serbischen Geographen Cvijić und dessen bulgarischem Kollegen Iširkov über die ethnische Zugehörigkeit der Mazedonier, einer Auseinandersetzung, die sich zu einem serbisch-bulgarischen Gebietsstreit entwickelte und so ihren politischen Charakter offenbarte. Dies war nur einer der Vorboten der Konflikte, zu denen es unter den Geographen während des Ersten Weltkriegs kommen sollte, und zwar zwischen den slawischen und den rumänischen Fachvertretern selbst wie zwischen ihnen und deutschen Geographen, die sich auch zunehmend politisierten. So wurde etwa zwischen dem Ukrainer Stepan Rudnyc’kyj und dem Polen Eugeniusz Romer in tendenziösen kartographischen und geographischen Monographien um Gebietsansprüche gestritten, und Cvijić, die größte serbische Autorität in ethnographischen und kartographischen Fragen, suchte mit Blick auf die Nachkriegsordnung die serbische Dominanz auf dem westlichen Balkan zu begründen und den bulgarischen Einfluß zu minimieren.

Nationalitätenstatistiken zur geographischen Zuordnung

Der Erste Weltkrieg förderte das Interesse an der Erdkunde. Es erschienen zahlreiche Monographien und Abhandlungen über den zukünftigen Verlauf der Staatsgrenzen, die gerechter, sicherer und „natürlicher“ als die Vorkriegsgrenzen sein sollten. Auf deutscher Seite kam es zu einer Flut zunehmend weiter nach Osten ausgreifender Annexionspläne. Weit verbreitet waren auf allen Seiten einfache ethnische Karten, mit denen Annexionspläne oder erst noch zu schaffende Staaten legitimiert werden sollten.

Breiten Raum nimmt in dem Buch die Erörterung der Frage ein, mit welcher Art von Argumenten und mit was für Daten die Gebietsansprüche jeweils begründet wurden. Eine zentrale Rolle spielte die Nationalitätenstatistik, um „Korrekturen“ zu untermauern, mit dem Ziel, die Zahl der Landsleute des jeweiligen Geographen zu vergrößern und diejenige der Menschen aus angrenzenden Nationen zu verkleinern. Natürlich kam es hier zu zahlreichen konkurrierenden Zählungen und Zuordnungen, besonders zwischen Polen und Ukrainern. Eine große Rolle in diesen Streitigkeiten während des Krieges, bei der Friedenskonferenz und in der Nachkriegszeit spielten ethnische Flächenkarten, bei deren Erstellung verschiedene Kriterien berücksichtigt wurden – Wahl des Kartentyps, Farbe der einzelnen ethnischen Gruppen, Skalen und Techniken der Ausführung –, wodurch dieser Art von politischer Kartographie ein ausgeprägt subjektiver Charakter verliehen wurde.

In den Auseinandersetzungen um die Ziehung von neuen Grenzen nach dem Krieg wurde jedoch nicht nur und nicht bedingungslos mit ethnischen Kriterien argumentiert. Wenn es einer Seite zupaß kam, wurden solche Faktoren wie der geologische Aufbau eines Gebiets, Vegetation, Kulturlandschaft, Psyche der Bewohner, klimatische Einheit des Landes oder auch die Historizität von Grenzen bemüht, im letzteren Fall insbesondere von ungarischer Seite, um die Zusammengehörigkeit der Länder der Stephanskrone zu begründen. Die italienischen Gebietsansprüche an der Adriaküste wurden mit der höherstehenden italienischen Zivilisation untermauert. Auch die deutsche revisionistische Nachkriegsgeographie bediente sich des Arguments der höherstehenden Kultur und der „zivilisatorischen Mission“. Ganz analog wurde in Polen gegenüber der Ukraine argumentiert.

Die aus Ostmittel- und Südosteuropa stammenden Geographen, deren „kollektive Biographie“ hier vorgelegt wird, lösten sich während des Ersten Weltkrieges und in der Zeit danach von ihrer ursprünglich starken Bindung an die deutsche Geographie und bemühten sich verstärkt um Kontakte zu Kollegen in den USA, Großbritannien und Frankreich. Von den internationalen Kongressen der Nachkriegszeit blieben die deutschen Geographen zudem bis 1934 ausgeschlossen. Im Zentrum der wissenschaftlichen Tätigkeit der Geologen aus Ostmittel- und Südosteuropa stand in diesem gesamten Zeitraum die Legitimierung des eigenen Staates, das, was der Autor als „geopolitischen Dienst“ bezeichnet, das Gefühl der Verantwortung gegenüber der heimischen Wissenschaft und für das Wohl des Vaterlandes. Dieser Dienst mußte unweigerlich zu Spannungen und Problemen führen, wenn die ihn versehenden Geologen den wissenschaftlichen Standards treu bleiben wollten.

Es ist ein nicht geringes Verdienst des Autors, daß er diese Konfliktsituation immer wieder zur Sprache bringt und so dem Leser ein Lehrstück über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft bietet.

Maciej Górny: Vaterlandszeichner. Geografen und Grenzen im Zwischenkriegseuropa. Fibre Verlag, Osnabrück 2020, gebunden, 304 Seiten, 48 Euro