© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/21 / 09. Juli 2021

Weltstädte erkunden
Mit „Drive & Listen“ können Internetnutzer durch fremde Metropolen „cruisen“
Paul Leonhard

Schneegestöber in Jekaterinburg, gleißende Sonne in Havanna, grauer Himmel über Berlin, Regen in Melbourne – bei der Ankunft in fremden Städten kann man sich das Wetter nur selten aussuchen. Aber bei „Drive & Listen“ kann der Reiselustige schnell die Metropole wechseln, wenn ihm etwas nicht paßt. Ein Tastenklick und schon fährt man statt durch das Schmuddelwetter von Oslo oder Stockholm entlang von Palmen im sonnigen Miami oder Nizza – und hört dazu die passende Musik – wenn man denn den richtigen lokalen Sender findet. Ziellos-freies „Cruisen“ durch eine einem fremde oder auch vertraute Stadt.

Weltenbummler haben es in dieser Zeit schwer, wo schon eine Reise nach Malle zum Abenteuer werden kann, weil sich täglich die Vorschriften ändern können. Je weiter weg, desto größer die Schwierigkeiten. Einzelne Reisebüros werben bereits mit Internetreisen. Und die Regierung bittet, nicht notwendige Reisen zu unterlassen. 

Dafür ist das Internet voll mit Filmen über Sehenswürdigkeiten und Museen in aller Welt. Aber eines fehlte bisher: das lockere Dahinfahren durch eine geliebte Stadt, beispielsweise an einem schwülen Abend durch das Lichtermeer von Las Vegas oder das nächtliche Buenos Aires – inklusive lästiger Radfahrer, roter Ampeln, Stau und Straßengeräusche.

Bei Erkam Şeker, Student an der TU München, war es im vergangenen Jahr die Sehnsucht nach seiner durch Corona unerreichbaren Geburtsstadt Istanbul. Immer wieder schaute er sich Videos der türkischen Metropole an: „Ich habe es vermißt, durch meine Stadt zu fahren – auch den Streß des täglichen Lebens, den Lärm und Verkehr“, so Şeker gegenüber dem Online-Portal des Reiseführeranbieters Lonely Planet. Schließlich entwickelte und programmierte er eine App. Auf dieser locken derzeit Fahrten durch weltweit mehr als 50 Städte, von A wie Amsterdam bis Z wie Zürich. Insbesondere für Fernwehsüchtige ist dieses Angebot inzwischen ein „Lebensretter“, wie es Nutzer auf Instagram (rund 40.000 Follower) schreiben.

Die Qualität der Aufnahmen ist dabei unterschiedlich und manche Städte wirken auf den Videos nicht gerade einladend, was auch damit zusammenhängt, daß Şeker sich seine ersten Stadttouren aus Youtube-Reisekanälen zusammengesucht hat. So ist in Oslo das Schneegestöber noch schlimmer als in Stockholm, und im chinesischen Wuhan wackelt die Kamera so, daß dem Zuschauer schwindlig wird, wenn er nicht schnell auf einen anderen Städtenamen klickt. Inzwischen gibt es mehr und mehr Angebote von Fans, die mit der Autokamera Fahrten durch ihre Stadt aufnehmen, im Fall von Tel Aviv sogar per Motorrad, was den Reiz hat, daß es auch durch enge Gassen geht und auf den verstopften Straßen an den wartenden Autos vorbei.

Meistens beginnen die Fahrten auf irgendeiner langweiligen Schnellstraße oder in einem trostlosen Gewerbegebiet. Aber seltsamerweise sind es genau diese unspektakulären Anfahrten die Erinnerungen und Vorfreude wecken. Denn wie im wirklichen Leben, wo der Reisende entweder mit dem Taxi, der S-Bahn oder dem Bus vom weit vor der Stadt gelegenen Flughafen oder über Schnellstraßenzubringer oder entlang des Schienenstrangs in das Herz der Metropolen gelangt, ist es auch bei „Drive & Listen“. Ausnahmen sind Rom, Prag und Barcelona. Hier findet man sich ganz schnell im Zentrum wieder.

Die richtige Mode für die digitale Tour

In Chicago hat die Anreise den Reiz, daß die Formation der dichtgedrängten Wolkenkratzer wie ein Gebirgsmassiv erst am Horizont sichtbar wird und mit jedem Kilometer mehr emporwächst, bis man staunend den Kopf in den Nacken legt, um an den Fassaden emporzuschauen und viel zu spät bemerkt, daß sich vor einem der Verkehr auf der vierspurigen Fahrbahn an einer Ampel staut.

Bekannte Großstädte wie New York, Peking, Delhi, Hamburg, aber auch eher unbekannte Metropolen wie Curitiba, die Hauptstadt des südbrasilianischen Bundesstaates Paraná, wo die Fahrt zwischendurch in einer Sackgasse endet. Die Dauer der einzelnen Videos reicht von einigen Minuten bis zu mehr als einer Stunde (Tokio, Singapur, Los Angeles).

Auch die Modewelt hat bereits auf den Reisegenuß vor dem heimischen Computer reagiert. Die Vogue-Redaktion empfiehlt fünf Kleidungsstücke für die virtuelle Straßentour: einen asymmetrischen Plisseerock für Los Angeles, eine Übergangsjacke für Tokio, ein Hemdblusenkleid für Lissabon, knallrote Schuhe von Gucci für Rom. Der Autor seinerseits empfiehlt Ron Santiago für Havanna und Miami. Bleibt am Ende die Frage, helfen die angebotenen Städtetouren gegen das Fernweh oder verstärken sie es?

 https://driveandlisten.herokuapp.com