© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/21 / 16. Juli 2021

Kinder-Überraschung
Corona: Vor allem bei Eltern wächst die Unsicherheit, wie es nach dem Sommer weitergeht / „Keine neuen Schulschließungen“
Peter Möller

Wer gehofft hatte, das Thema Corona habe sich mit dem Auslaufen der dritten Infektionswelle und angesichts der stetig steigenden Zahl von Geimpften weitgehend erledigt, sieht sich jetzt eines Besseren belehrt. Vor dem Hintergrund der verstärkt auftretenden Delta-Variante des Coronavirus, steigender Infektionszahlen in mehreren europäischen Ländern und einer merklich nachlassenden Impfbereitschaft ist der Kampf gegen die Corona-Pandemie auch in Deutschland wieder auf der politischen Tagesordnung ganz nach vorne gerückt. 

Im Zentrum stehen dabei die Impfkampagne sowie die Frage, wie aussagekräftig die Inzidenz mit Blick auf die Verbreitung des Virus innerhalb der Bevölkerung überhaupt ist. Gleichzeitig wächst bei Politikern und Eltern angesichts der Ausbreitung der Delta-Variante die Unsicherheit, ob der Schulbetrieb nach den Sommerferien wie geplant ohne größere Einschränkungen wieder aufgenommen werden kann. Die Diskussion über weitere Lockerungen und die Frage der Maskenpflicht etwa in Geschäften und öffentlichen Verkehrsmitteln rückt angesichts dieser Entwicklungen in der öffentlichen Debatte wieder in den Hintergrund.

„Zwang ist niemals ein guter Begleiter in der Demokratie“

Als Reaktion auf die sinkende Impfbereitschaft kündigte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am Dienstag „mehr Freiheit“ für vollständig Geimpfte an, um die Impfquote zu erhöhen. „Vollständige, unbeschwerte Freiheit gibt es nur mit Impfen. Ohne Impfen keine Freiheit – jedenfalls nicht so in der Form, wie wir es uns vorstellen“, sagte der CSU-Vorsitzende. Er schlug vor, daß Quarantäneregeln für den Urlaub für zweifach Geimpfte nicht mehr gelten sollten. Zudem stellte er einen Zusammenhang zwischen mehr Impfungen von Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen und weiteren Öffnungsschritten her. „Je mehr junge Leute geimpft sind, und zwar zweifach, desto leichter können wir zum Beispiel auch bestimmte Angebote wie Clubs oder Diskotheken wieder in Erwägung ziehen“, erläuterte Söder, der gleichzeitig finanzielle Anreize für Impfungen als „nicht angemessen“ ablehnte. Er bekräftigte zugleich, eine formale Corona-Impfpflicht sei weiter „auf keinen Fall“ geplant.

Doch angesichts der Entwicklung etwa in Frankreich, wachsen auch in Deutschland die Zweifel an der Haltbarkeit dieser Aussage. Der französische Präsident Emmanuel Macron kündigte Anfang der Woche eine Impfpflicht für das Gesundheitspersonal an. Bis Mitte September müssen sich dort Angestellte in Krankenhäusern und Pflegeheimen impfen lassen.

In Deutschland sind unterdessen Lehrer und Erzieher in den Fokus geraten. Der Medizinethiker Wolfram Henn, Mitglied des Deutschen Ethikrats, forderte Anfang der Woche eine Impfpflicht für das Personal in Kitas und Schulen. „Wer sich aus freier Berufswahl in eine Gruppe vulnerabler Personen hinein begibt, trägt eben besondere berufsbezogene Verantwortung“, sagte Henn der Rheinischen Post. Widerspruch bekam der Medizinethiker sogleich von den Gewerkschaften. Angesichts der hohen Impfbereitschaft der Lehrer sei eine Impfpflicht weder notwendig noch angemessen, sagte die nord-rhein-westfälische GEW-Vorsitzende Ayla Çelik dem WDR. „Zwang ist niemals ein guter Begleiter in einer Demokratie.“ Auch wenn eine Impfpflicht für Lehrer derzeit politisch kaum durchsetzbar erscheint, verdeutlicht die Diskussion die wachsende Verunsicherung mit Blick auf den Schulstart nach den Sommerferien. Da die allermeisten Schüler bislang noch nicht geimpft werden können, weil noch kein Impfstoff für diese Altersgruppen zugelassen worden ist, warnen Experten davor, daß sich die ansteckendere Delta-Variante des Coronavirus nach den Ferien in den Schulen rasant ausbreiten und damit auch das Impfgeschehen insgesamt beeinflussen könnte. Erneute Schulschließungen unmittelbar vor der Bundestagswahl Ende September sind nicht nur für Bildungspolitiker ein Albtraum. 

Angesichts dieser Entwicklung warf Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt der Bundesregierung Versäumnisse vor. „Wir laufen mit Ansage in einen zweiten Corona-Herbst, und wieder unternimmt die Bundesregierung viel zu wenig, um Kitas und Schulen zu sichern“, warnte sie gegenüber der Funke-Mediengruppe. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sagte der Bild am Sonntag, für ihn wäre es „entsetzlich“, „wenn wir wieder zu einem Lockdown kämen, der die Jüngsten trifft.“ Trotz fehlender Impfempfehlung durch die Ständige Impfkommission forderte Schäuble, „man sollte Jüngere impfen, wenn sie es wollen. Wenn wir es durch Impfungen der 12- bis 17jährigen schaffen, daß wir Einschränkungen im Schulbetrieb vermeiden, dann ist das ein gewichtiges Argument.“ Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) kündigte unterdessen an, seine Landesregierung werde die Zahl der Luftfilter „in den unteren Klassenstufen, in denen die Abstände am schwierigsten einzuhalten sind – erheblich steigern.“ Eine flächendeckende Ausstattung der Schulen mit Luftfiltern gilt indes in absehbarer Zeit in keinem Bundesland derzeit als realistisch. Eine in der vergangenen Woche veröffentlichte Allensbach-Studie erhöht den Druck auf die Politik in der Schulfrage zusätzlich. Laut der repräsentativen Befragung fordert nicht nur eine absolute Mehrheit der 10- bis 16jährigen eine Rückkehr zum Präsenzunterricht, sondern jeder vierte Schüler attestiert sich zudem einen deutlichen Lernrückstand. „Bund und Länder müssen sich jetzt ehrlich machen und eine verbindliche Zusage geben, daß es nach den Sommerferien keine weiteren Schulschließungen mehr geben wird“, kommentierte der bildungspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Götz Frömming, die Ergebnisse der Untersuchung.

Eine wichtige Rolle für das Infektionsgeschehen nach dem Ende der Urlaubszeit spielen nicht zuletzt auch die Reiserückkehrer. Mit Sorge wird daher in Berlin jeder Anstieg der Infektionszahlen in den Hauptreiseländern beobachtet. In Hamburg werden Rückkehrer aus dem Urlaub bereits für ein Drittel aller Infektionen in der Hansestadt verantwortlich gemacht. Nicht erst der auf Reiserückkehrer zurückzuführende leichte Anstieg der Inzidenzwerte in Deutschland scheint den Pessimisten recht zu geben, die für den Herbst bereits eine vierte Corona-Welle auf Deutschland zurollen sehen. Schon jetzt wird daher darüber diskutiert, wie künftig die Infektionsrate innerhalb der Bevölkerung gemessen werden soll, um zielgenau über notwendige Einschränkungen zu entscheiden.

Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums kündigte am Montag an, daß zur Einschätzung der Corona-Lage neben der Sieben-Tage-Inzidenz künftig auch weitere Parameter wie die Zahl der Krankenhauseinweisungen stärker hinzugezogen werden sollen. Damit sei aber keine grundsätzliche Änderung der politischen Strategie verbunden, schränkte Regierungssprecher Steffen Seibert ein. Doch es zeichnet sich ab, daß neue Corona-Maßnahmen künftig nicht mehr wie bisher direkt mit den Inzidenzzahlen verknüpft werden. So sei laut Seibert eine erneute Einführung der Bundesnotbremse ab einer Inzidenz von 100 kein „Automatismus“. Mit dieser leichten Kursänderung verschafft sich die Bundesregierung nicht zuletzt auch mit Blick auf die Bundestagswahl etwas mehr Flexibilität bei der Reaktion auf steigende Corona-Infektionen.