© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/21 / 16. Juli 2021

Kampf um die Lehrpläne
„Critical Race Theory“: Die Ideologie dringt aus den US-Universitäten in die Institutionen – und somit auch in die Bildungsarbeit der Schulen
Björn Harms

Irgendwann reichte es Ty Smith. Die Schulratssitzung in Illinois wurde gerade hitziger, da erhob sich der Radio-Moderator und Vater zweier Teenager von seinem Stuhl. Lautstark ergriff der Afroamerikaner das Wort: „Wenn Sie hier über die ‘Critical Race Theory’ sprechen, dann läuft diese so ziemlich darauf hinaus, Kindern beizubringen, wie man sich gegenseitig haßt, wie man sich nicht mag. Sie werden den Kindern absichtlich beibringen: Der weiße Junge hier hat es besser, weil er weiß ist“, polterte Smith wütend. „Sie werden einem weißen Kind erzählen: Oh, die schwarzen Menschen sind alle am Boden und unterdrückt. Wie zum Teufel aber kann ich zwei medizinische Abschlüsse haben, wenn ich hier unterdrückt werde?“ fragte Smith den etwas verlegen dreinblickenden Schulrat aus Illinois, der die Sitzung einberaumt hatte.

Im Hintergrund brandete sofort lauter Jubel auf. Viele anwesende Eltern nickten zustimmend. Die wütende Rede Smiths ging Mitte Juni im Netz viral, da sie jemand auf Video gefilmt hatte. Derartige Äußerungen treffen zur Zeit im ganzen Land einen Nerv. Zwar ist die „Critical Race Theory“ (CRT) noch nirgendwo im Bildungsplan festgeschrieben, viele Eltern aber haben Angst davor, daß es dazu kommt. An immer mehr Schulen regt sich Widerstand. 

Tatsächlich bildet die „Critical Race Theory“ im weiter schwelenden Kulturkampf in den USA mittlerweile einen der Hauptkonflikte. Jene Ideologie also, die sich in den 1970er Jahren in der juristischen Fakultät der Harvard-Universität herausgebildet hatte, und die einen strukturellen Rassismus in allen weißen Mehrheitsgesellschaften verortet (JF 52/20). Kürzlich sprach „Fox News“-Kommentator Tucker Carlson diesbezüglich von „wissenschaftlichem Rassismus“. Er warnte: „Man kann eine multirassische Demokratie nicht aufrechterhalten, wenn nicht Menschen jeder Farbe genau die gleichen Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben und genau den gleichen moralischen Wert.“ Der Kampf um die Institutionen ist also längst im Gange. Ob in Schulen, Universitäten oder Verwaltungsbehörden – welche Rolle spielt die CRT mittlerweile, lautet die Frage. Wird sie lediglich als Theorie gelehrt und kritisch gelesen oder tatsächlich als Glaubensbekenntnis bei Schülern, Studenten und Angestellten implementiert? 

Darüber streiten sich die Geister. Denn Mainstreammedien sowie linke Politiker und Aktivisten verdammen die aufkommenden Vorbehalte gegen die Ideologie von Menschen, die sich dagegen wehren, als weiße Person in den öffentlichen Debatten als moralisch minderwertig wahrgenommen zu werden, als Propaganda der Konservativen.

Randi Weingarten, Präsidentin der American Federation of Teachers, beklagte vergangene Woche in einer Rede eine „Kulturkampagne“ von konservativen Gesetzgebern und Nachrichtenseiten gegen die „Kritische Rassentheorie“. Diese sei schließlich nur ein jahrzehntealter akademischer Rahmen, der behaupte, „daß Rassismus in die Geschichte und damit in die Gegenwart der Nation eingewoben ist und dazu beiträgt, wie Institutionen und Systeme funktionieren“. Zudem werde die CRT in den amerikanischen Grund-, Mittel- und Oberschulen nicht gelehrt, sondern nur in juristischen Fakultäten und im College, betonte sie.

Ist die Angst also unbegründet? Daß die CRT bislang nicht in den Bildungsplänen auftaucht, ist durchaus richtig – doch die Betonung liegt auf bislang. Gemäß einer am 4. Juli veröffentlichten Erklärung der National Education Association, der landesweit größten Gewerkschaft von Lehrern, Verwaltungsangestellten und Pädagogen, will man künftig „über bestehende Kanäle bereits verfügbare Informationen über die ‘Kritische Rassentheorie’ weitergeben und veröffentlichen“. Nicht nur, „was sie ist und was sie nicht ist“, soll dabei geklärt werden. Auch „ein Team von Mitarbeitern“ soll für alle Mitglieder bereitgestellt werden, „die sich gegen die Anti-CRT-Rhetorik wehren wollen“.

Zusätzlich wird demnächst „eine bereits erstellte, tiefergehende Studie“ veröffentlicht, die unter anderem „weiße Vorherrschaft“, „Rassismus“, „das Patriarchat“, „den Kapitalismus“, „Behindertenfeindlichkeit“, „Anthropozentrismus“ und „andere Formen von Macht und Unterdrückung an den Schnittstellen unserer Gesellschaft kritisch hinterfragt“. Die Erklärung der NEA endet mit einem Appell. Am 14. Oktober, dem Geburtstag von George Floyd, ruft der Verband gemeinsam mit „Black Lives Matter at School“ zu einem „nationalen Aktionstag“ auf, „um über strukturellen Rassismus und Unterdrückung zu informieren“. 

Doch auch im Militär brandet mittlerweile eine Debatte über die CRT auf. Kürzlich ging es in der öffentlichen Auseinandersetzung zum Thema um die berühmte Akademie West Point. Und auch hier lautet die Frage: Werden die Lehren der Ideologie nur vorgestellt oder unkritisch den Soldaten eingetrichtert? Bereits 2017 wurde im Lehrplan der Kurs „Rasse, Ethnie und Nation“ aufgenommen. Das Curriculum besteht dabei fast ausschließlich aus der Lektüre von Größen der CRT, etwa Kimberlé Crenshaw, Carol Anderson oder Angela Y. Davis, postmodernen Philosophen wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sowie linken Historikern wie Wolfgang Wippermann.

Einer der ranghöchsten Militärs der USA, Joint Chief of Staff Mark Milley, nutzte vor wenigen Wochen eine Anhörung vor dem Kongreß, um den derzeitigen negativen Umgang mit dem Thema „Critical Race Theory“ zu bemängeln und seine Truppe zu verteidigen. „Ich denke, es ist wichtig für diejenigen von uns in Uniform, aufgeschlossen zu sein und weithin belesen zu sein“, antwortete Milley auf eine Anfrage der Abgeordneten Chrissy Houlahan (Demokraten). „Ich habe Mao Tse-tung gelesen“, führte Milley aus. „Ich habe Karl Marx gelesen. Ich habe Lenin gelesen. Das macht mich nicht zu einem Kommunisten.“ Er empfinde es als beleidigend, das US-Militär und die Generalstabsoffiziere als „woke“ zu belächeln, nur „weil wir einige Theorien studieren, die da draußen sind“. Doch Anstoß an einem Studium der CRT nahm auch keiner der republikanischen Abgeordneten. Vielmehr ging es darum, ob die Lehre ungefiltert verbreitet wird. Auch Milley nutzte in seiner Verteidigung bereits unkritisch Begriffe, die direkt aus der CRT stammen, so etwa „white rage“. „Ich möchte die weiße Wut verstehen“, erklärte Milley vor dem Kongreß. „Und ich bin weiß, und ich will es verstehen.“

Angestoßen hatte die Debatte im vergangenen September Donald Trump. Eine präsidiale Anordnung hatte die Finanzierung von Schulungen zur „Kritischen Rassentheorie“ für Bundesangestellte gestoppt. Etwa zur gleichen Zeit kritisierte er das „1619-Projekt“, einen mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Bericht der New York Times aus dem Jahr 2019, der behauptet, daß die USA in Wirklichkeit nicht 1776, sondern 1619 gegründet wurden, als die ersten versklavten Menschen in die Kolonien gebracht wurden. Pädagogen griffen diese Botschaft auf und begannen, das Projekt auch in der Schule im Geschichtsunterricht zu nutzen.Trump sprach damals von „einem Kreuzzug gegen die amerikanische Geschichte“ und „ideologischem Gift, das unser Land zerstören wird“. Joe Biden ließ die präsidiale Entscheidung unmittelbar nach Amtsantritt rückgängig machen.

Republikanische Staaten haben Anti-CRT-Gesetze beschlossen

Trumps Ansätze jedoch werden mittlerweile von republikanisch regierten Staaten fortgeführt. Ende April unterzeichnete der Gouverneur von Idaho, Brad Little, als erster Gouverneur ein Gesetz, das „Critical Race Theory“ als Unterrichtsinhalt an Schulen und Universitäten deutlich beschränken soll (siehe Infokasten). Mindestens fünf Staaten, darunter Florida, Arkansas und Texas, haben in den vergangenen Monaten ebenfalls Verbote der „Kritischen Rassentheorie“ oder verwandter Themen erlassen. In fast einem Dutzend weiterer Staaten drängen die Republikaner auf eine ähnliche Gesetzgebung.

Floridas Gouverneur Ron DeSantis, derzeit der Mann der Stunde in der Republikanischen Partei und heißer Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur 2024, begründete seine Entscheidung wie folgt: „Die woke Klasse will Kinder lehren, einander zu hassen, anstatt sie zu lehren, wie man liest, aber wir werden nicht zulassen, daß sie diese Unsinnsideologie in Floridas Schulen bringen“, sagte der 42jährige Ende Juni. „Ich liebe diesen Staat, und ich liebe mein Land. Ich finde es unvorstellbar, daß es andere Menschen in Führungspositionen in der Bundesregierung gibt, die glauben, daß wir Kinder lehren sollten, unser Land zu hassen.“ 

Wütende Gegenreden waren die Folge. Mittlerweile entwickeln auch linke Kommentatoren der New York Times oder der Washington Post libertäre Gefühle. Der Staat solle sich aus dem „Markt der Ideen“ in den Schulen heraushalten, heißt es. Konservative Autoren wie Christopher Rufo, Dokumentarfilmer und einer der bekanntesten Aktivisten im Kampf gegen die „Critical Race Theory“, wollen dieses Argument nicht gelten lassen. Denn schlußendlich ziele die CRT auf eine „konkrete Tyrannei“ ab, die „die Prinzipien der individuellen Rechte und des gleichen Schutzes durch das Gesetz“ untergrabe, schrieb Rufo am Sonntag in der New York Post. Das öffentliche Bildungssystem sei kein „Marktplatz der Ideen“, sondern ein „staatlich geführtes Monopol“. Es gehe darum, die Kinder zu schützen.





Was steht in Idaho seit Ende April im Gesetz?

1. Es ist die Absicht des Gesetzgebers, daß Verwaltungsangestellte, Mitglieder des Lehrkörpers, andere Angestellte und Studenten an öffentlichen Schulen, einschließlich öffentlicher Charterschulen und Hochschulen, die Würde anderer respektieren, das Recht anderer anerkennen, abweichende Meinungen zu äußern, und intellektuelle Ehrlichkeit, Freiheit der Forschung und des Unterrichts sowie Rede- und Vereinigungsfreiheit fördern und verteidigen.

2. Die Legislative von Idaho stellt fest, daß die in Unterabschnitt (3a) dieses Abschnitts dargelegten Lehren, die oft in der „Critical Race Theory“ zu finden sind, die in Unterabschnitt (1) dieses Abschnitts dargelegten Ziele untergraben und Spaltung auf der Grundlage von Geschlecht, Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Hautfarbe, nationaler Herkunft oder anderen Kriterien in einer Weise verschärft und entfacht, die der Einheit der Nation und dem Wohlergehen des Staates Idaho und seiner Bürger widerspricht.

3. a) Keine öffentliche Hochschuleinrichtung, kein Schulbezirk und keine öffentliche Schule, einschließlich einer öffentlichen Charter-Schule, darf Studenten oder Schüler anweisen oder anderweitig dazu zwingen, eine der folgenden Lehren persönlich zu bestätigen, anzunehmen oder zu befolgen: (i) Daß ein Geschlecht, eine Rasse, eine ethnische Zugehörigkeit, eine Religion, eine Hautfarbe oder eine nationale Herkunft von Natur aus überlegen oder minderwertig ist; (ii) daß Individuen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Rasse, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion, ihrer Hautfarbe oder ihrer nationalen Herkunft benachteiligt werden sollten; oder (iii) daß Individuen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Rasse, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion, ihrer Hautfarbe oder ihrer nationalen Herkunft von Natur aus für Handlungen verantwortlich sind, die in der Vergangenheit von anderen Mitgliedern desselben Geschlechts, derselben Rasse, ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Hautfarbe oder nationalen Herkunft begangen wurden. (b) Es darf keine Unterscheidung oder Klassifizierung von Schülern aufgrund ihrer Rasse oder Hautfarbe vorgenommen werden. (c) In keiner Hochschuleinrichtung, in keinem Schulbezirk oder in keiner öffentlichen Schule, einschließlich einer öffentlichen Charter-Schule, darf ein Unterrichtskurs verwendet oder eingeführt werden, der die Studenten dazu anleitet oder anderweitig zwingt, eine der in Absatz (a) dieses Unterabschnitts genannten Lehren persönlich zu bestätigen, anzunehmen oder zu befolgen.

4. Nichts in diesem Abschnitt sollte so ausgelegt werden, daß es die Erhebung oder Berichterstattung von demographischen Daten durch öffentliche Schulen oder öffentliche Hochschulen verbietet.

 House Bill No. 377: https://legislature.idaho.gov