© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/21 / 16. Juli 2021

Hölderlin und die Begierde nach Rettung in Zeiten von Corona
Versäumte geistige Erschütterung
(dg)

Was Friedrich Hölderlin (1770–1843) und die Corona-Pandemie miteinander zu tun haben, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Aber der Kulturwissenschaftler Franz Maciejewski klärt auf (Lettre International, 133/2021). Zum einen habe das damals am Anfang seines Triumphzuges stehende chinesische Virus im März 2020 dem Dichter den 250. Geburtstag verhagelt. Denn infolge verschärfter Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung fielen die meisten der zu seiner Ehrung geplanten Veranstaltungen aus. Halb als Abwehrzauber, halb als Mutmacher, erinnerte dann öffentlich nur noch der auf manche Atemschutzmaske gedruckte Vers aus der Patmos-Hymne an den Poeten: „Wo aber Gefahr ist, wächst/das Rettende auch“. Quer zum Zeitgeist habe diese auch im Netz vielfach variierte Weisheit nicht gerade gestanden, und die Nachfrage ebbte ab, als „das Rettende“ sich in handfester Form einer Massenimpfung zeigte. Dadurch sei die aktuellere Beziehung zwischen Hölderlin und Corona dann im dunkeln geblieben. Erwarte das lyrische Ich der Patmos-Hymne „Rettung“ nicht aus materiellen Nöten, sondern aus der Seelenqual der Gottferne. Eine Not, findet Maciejewski, die sich mit der modernen „transzendentalen Obdachlosigkeit“ ins Unermeßliche gesteigert. Deren brutalster Ausdruck im Zeitalter des kapitalistischen Wirtschaftens sei der technisch-ökonomische Zugriff auf die entzauberte Natur. Vor dessen ökologischen Folgen, zu denen zoonotische Seuchen wie Corona gehörten, könne, wie zu Hölderlins Zeit, als die Industrialisierung einsetzte, nur eine zur Umkehr zwingende „geistige Erschütterung“ bewahren. 


 www.lettre.de