© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/21 / 16. Juli 2021

CD-Kritik: Franz Schubert – Joyce DiDonato
Dramaqueen
Jens Knorr

Zu den Frauenstimmen, die sich Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ bemächtigt haben, gesellt sich nun auch die von Joyce DiDonato. „Aber was ist mit ihr?“ fragt die große US-amerikanische Sopranistin. Zwar weiß Wilhelm Müllers Dichtung, daß sie die „reiche Braut“ eines andern ist, aber damit gibt sich DiDonato nicht zufrieden. In dem Konzertmitschnitt von 2019 sucht sie den „Zyklus schauerlicher Lieder“ aus Sicht der Frau zu interpretieren, die in den hinterlassenen Papieren des Reisenden liest – mit dem Musikdirektor der Metropolitan Opera Yannick Nézet-Séguin am Konzertflügel.

Doch ist die Frau zwar der Auslöser, nicht aber der Grund seiner Schmerzen. Ganz gleich, ob der Erzähler nun weiblich, männlich, divers oder irgendwas ist, DiDonato läßt ihn doch wieder mit dem Lyrischen Ich ununterscheidbar in eins fallen, nur daß seine Lieder hier von einer, übrigens sehr exquisiten, Sopranstimme getragen werden. Für die wurden sie jedoch nicht geschrieben.

Durchlebt die Überlebende die Schmerzen des Wanderers, spiegelt sie ihr Schicksal in dem seinen oder zieht sie am Ende gar emotionales Kapital aus seinem Passionsweg? Mit blühender Stimme, dramatischer Phantasie und, von wenigen Vokalverfärbungen abgesehen, beachtlicher Sprachsicherheit zieht DiDonato jedes der 24 Lieder hochexpressiv bis sentimental – und immer kontrolliert! – als große Opernszene auf und rückt den Horizont des franziszeischen Zeitalters in zeitlose Ferne. Aber Schubert hat nicht zeitlos komponiert!

Franz Schubert Winterreise D 911. Erato 2021  www.joycedidonato.com www.warnerclassics.com