© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/21 / 16. Juli 2021

Kriegsende und Vergangenheitsbewältigung
Unzeitgemäße Anfragen
Werner Lehfeldt

In der DDR wurde der Beendigung des Zweiten Weltkrieges seit 1950 jeweils am 8. Mai mit dem „Tag der Befreiung“ gedacht, wobei die Rolle der Befreier so gut wie ausschließlich der Roten Armee zugeschrieben wurde. In der Bundesrepublik gab es und gibt es bis heute keinen solchen offiziellen Feiertag und wurde das Kriegsende von den Repräsentanten des Staates auch nicht mit dem Begriff der Befreiung verknüpft. Diese Situation begann sich spätestens 1985 zu ändern, als der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer Gedenkrede im Bundestag aus Anlaß des 40. Jahrestags der Beendigung des Kriegs den 8. Mai 1945 gleich zu Beginn als „Tag der Befreiung“ bezeichnete: „Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Seitdem hat sich das „Narrativ“ von der Befreiung in Deutschland immer weiter durchgesetzt und verfestigt und wird von den höchsten Repräsentanten des Staates in Ansprachen zum Gedenken an das Kriegsende unfehlbar eingesetzt, wie es auch in diesem Jahr in den Stellungnahmen Steinmeiers und Merkels wieder der Fall gewesen ist.

Auffälliger- und merkwürdigerweise wird, wenn vom 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus gesprochen wird, niemals explizit auf eine doch naheliegende Frage eingegangen. Das Reden von einer Befreiung ergibt nur dann einen deutlichen Sinn, wenn klar ist, wer einerseits die zu befreienden und dann befreiten Menschen und wer andererseits deren Befreier gewesen sind. Der von Weizsäcker beschworene Tag als bloßes Datum kann doch nicht die Rolle eines Befreiers beanspruchen. Stellt man nun ausdrücklich die Frage nach den zu Befreienden, den Befreiten und den Befreiern, dann wird die Fragwürdigkeit des Redens vom Kriegsende als Befreiung schnell deutlich. Der Ausdruck „Fragwürdigkeit“ soll hier ganz wörtlich verstanden werden: Das Reden vom 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung ist „würdig“, mit einer Frage verknüpft zu werden, auf die eine Antwort zu suchen ist.

Gehen wir auf die Suche nach einer Antwort und beginnen mit den zu befreienden Menschen. Es steht außerhalb jeglichen Zweifels, daß – zum Beispiel – die Überlebenden in den Konzentrations- und Vernichtungslagern 1945 befreit und so vor dem Tod bewahrt worden sind, dem sie kaum entgangen wären, hätten sie noch länger in diesen Lagern vegetieren müssen. Hier kam es auf jeden Tag, ja auf jede Stunde an. Befreit wurden zweifellos auch – ein weiteres Beispiel – die in Deutschland festgehaltenen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, wenngleich insbesondere die überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen – weit mehr als die Hälfte der sowjetischen Kriegsgefangenen war zu Tode gekommen – Grund hatten, der Rückkehr in die Heimat mit – sagen wir – gemischten Empfindungen entgegenzusehen.

Weniger eindeutig fällt die Antwort aus, wenn wir nach den anderen zu befreienden Menschen fragen. Bei ihnen muß es sich ja wohl um das deutsche Volk in seiner großen Mehrheit gehandelt haben, wenn wir von den als Kriegsverbrecher oder zumindest als Handlanger des Regimes einzustufenden Personen absehen, die mit ihrer Aburteilung und Bestrafung zu rechnen hatten, darunter etwa der Vater des Bundespräsidenten von 1985, Ribbentrops Staatssekretär Ernst von Weizsäcker. Fragen wir ganz explizit: Ist das deutsche Volk in seiner großen Mehrheit – nicht „wir alle“, wie es Weizsäcker formuliert hat – 1945 vom Nationalsozialismus befreit worden? Wenn wir bereit sind, diese Frage zu bejahen, stellt sich sofort die Frage nach den Befreiern.

Offensichtlich hat es das deutsche Volk – leider! – nicht vermocht, sich aus eigener Kraft von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu befreien. Also müssen die Befreier von außen gekommen sein, und hier kommen nur die Armeen der Alliierten, der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens, in Frage. Sind diese Armeen aber wirklich als Befreier nach Deutschland gekommen, konnte ihren Angehörigen die Rolle als Befreier überhaupt in den Sinn kommen?

Nehmen wir die Rote Armee in Betracht. 1941 war die Sowjetunion auf Befehl Hitlers von der deutschen Wehrmacht angegriffen worden, und es hatte viele Millionen Menschenleben, sowohl unter den kämpfenden Soldaten wie auch in der Zivilbevölkerung, gekostet, diesen Angriff zurückzuschlagen und den Angreifer schließlich zu besiegen, von der Verwüstung der von der Wehrmacht besetzten Gebiete einmal ganz abgesehen. Konnte es den Soldaten der Roten Armee angesichts dieser Opfer auch nur im Traum einfallen, sie kämen als Befreier des deutschen Volkes in das besiegte Land? Die Frage so zu stellen, reicht aus, um eine bejahende Antwort als absurd erscheinen zu lassen.

Die sowjetischen Soldaten hatten überhaupt keinen Grund, sich als Befreier des deutschen Volkes zu betrachten, ganz im Gegenteil. Zitieren wir noch einmal Richard von Weizsäcker: „Die Vergangenheit war furchtbar gewesen, zumal auch für viele dieser Feinde. Würden sie uns nun nicht vielfach entgelten lassen, was wir ihnen angetan hatten?“ Eine Antwort auf diese Frage blieb der Redner allerdings schuldig – kein Wunder; denn bei der Suche nach einer Antwort wäre er unweigerlich auf vermintes Gelände geraten.

Tatsächlich haben „uns“ die gegen Deutschland kämpfenden und schließlich siegreichen Mächte vielfach entgelten lassen, was „wir“ ihnen angetan hatten, und sie haben das nicht erst nach dem Kriegsende, sondern schon lange vorher getan. Denken wir nur an den von den Amerikanern und den Briten jahrelang und bis unmittelbar vor Kriegsende geführten Terrorluftkrieg, bei dem alles daran gesetzt wurde, möglichst viele deutsche Städte zu zerbomben und dabei Hunderttausenden von Menschen den grausigen Feuertod zu bringen, wo doch in diesen Städten Menschen lebten, die angeblich befreit werden sollten. Oder nehmen wir, um nur noch dieses eine Beispiel anzuführen, die Torpedierung der „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar 1945 durch ein sowjetisches U-Boot vor der pommerschen Küste. Auf dem Schiff drängten sich mehr als 10.000 Flüchtlinge, Soldaten der Wehrmacht, Marine­soldaten und Marinehelferinnen, von denen die weitaus meisten in dem eisigen Wasser der Ostsee ertranken.

Und was geschah, nachdem die Rote Armee deutschen Boden betreten hatte? Schon vor Kriegsende mußten unzählige Menschen auf der Flucht vor ihr die Heimat verlassen, mußten das antreten, was Weizsäcker euphemistisch als „erzwungene Wanderschaft“ bezeichnete, eine „Wanderschaft“, in deren Verlauf es zu unfaßbaren Gewaltexzessen kam. Ungezählte Frauen wurden in Deutschland vergewaltigt und konnten sich, soweit sie danach nicht in den Freitod gegangen waren, von dem ihnen zugefügten Trauma niemals mehr befreien. In meiner brandenburgischen Heimatstadt Perleberg, einer Kleinstadt, gingen 1945 an die 250 Menschen in den Freitod oder wurden ermordet. Eine Tante von mir erhängte sich am Bettpfosten, nachdem sie „Besuch“ von „Befreiern“ erlitten hatte ...

Wie steht es also um den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus? Das deutsche Volk ist damals gottlob das in der Tat grausige und menschenverachtende System der nationalsozialistischen Herrschaft losgeworden, aber nicht als Folge einer „Befreiung“, sondern als Ergebnis einer beispiellosen nationalen Katastrophe. Und diese Katastrophe selbst war am 8. Mai 1945 keineswegs zu Ende, sondern nahm jetzt ungehemmt Fahrt auf, trat in ein neues Stadium ein. Erst jetzt wurden die östlich der Oder und Neiße lebenden Deutschen unter Zustimmung der großen Siegermächte systematisch und unter brutaler Gewaltanwendung aus ihrer Heimat verjagt und vertrieben, nunmehr ohne jegliche Hoffnung, vielleicht in einem Hafen eine – noch keineswegs Sicherheit garantierende – Zuflucht auf einem Schiff zu finden. Als Folge der Beneš-Dekrete vom März 1946 wurden drei Millionen Deutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben, wobei es zu grauenvollen Todesmärschen und anderen Gewaltausbrüchen kam. Erst jetzt wurde es allmählich zur Gewißheit, daß Deutschland etwa ein Viertel seines Gebietsstandes von 1937 verlieren würde. Die völkerrechtswidrige Abtrennung Ostbrandenburgs, Hinterpommerns, Schlesiens, West- und Ostpreußens bedeutete auch einen unermeßlichen kulturellen Verlust, auf den allerdings in offiziellen Reden aus Anlaß des Gedenkens an das Kriegsende kein Wort „verschwendet“ wird. Im offiziellen Deutschland sind diese Gebiete gewissermaßen der damnatio memoriae anheimgefallen, was sich unter anderem darin manifestiert, daß das nach 1945 jahrzehntelang als „Mitteldeutschland“ bezeichnete Gebiet der – jetzt ehemaligen – DDR heute unter der Bezeichnung „Ostdeutschland“ firmiert.

Halten wir es hier noch einmal fest: Am 8. Mai 1945 ist das deutsche Volk das nationalsozialistische Regime gottlob losgeworden, aber eben nicht im Ergebnis einer wie auch immer gearteten „Befreiung“, sondern als Ergebnis einer nationalen Katastrophe, die an diesem Tag auch kein Ende nahm, danach noch sehr lange andauerte und bis in unsere Gegenwart zu spüren ist, wenn man nur bereit ist, vor ihr nicht Augen und Ohren zu verschließen. Den Vorwurf der political incorrectness, des Revanchismus oder was es sonst noch für „einschlägige“ Epitheta geben mag, wird man dann natürlich hinzunehmen und zu ertragen haben.






Prof. em. Dr. Dr. h. c. Dr. h. c. Werner Lehfeldt, Jahrgang 1943, lehrte von 1975 bis 2011 Slavistische Sprachwissenschaft an den Universitäten Konstanz, Basel und Göttingen.

Foto: Reste eines Flüchtlingstrecks nach Beschuß durch sowjetische Panzer, Frühjahr 1945: „Befreit“ von Leib und Leben, Hab und Gut, Heimat und Sicherheit