© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/21 / 16. Juli 2021

Plötzlicher Rauch an Europas Himmel
Jugoslawienkrieg: Vor dreißig Jahren eskalierte zwischen Kroaten und Serben in der Krajina und Slawonien der Konflikt
Michael Dienstbier

Der Jugoslawienkrieg führt angesichts seiner Ausmaße ein seltsam anmutendes Schattendasein in der öffentlichen Wahrnehmung. Sucht man nach einer kompakten Übersichtsdarstellung, werden einem nur wenige Bücher empfohlen, die sich zudem lediglich auf einige Teilaspekte dieses von 1991 bis 2001 andauernden Großkonflikts konzentrieren. Dafür gibt es Gründe. Er ist geprägt von einer geographischen, politischen und ethnokulturellen Unübersichtlichkeit, die sich schwer auf einen Nenner bringen läßt und sich somit einem einfachen Verständnis entzieht. Ein Blick auf den Beginn des Konflikts vor 30 Jahren zeigt aber auch, daß der wahre Grund für das relative öffentliche Desinteresse tiefer liegt.

Dem Zehn-Tage-Krieg in Slowenien folgen Kämpfe in Kroatien

Doch bereits über den Zeitpunkt des Beginns des Jugoslawienkrieges herrscht Uneinigkeit. Ein konkretes Datum hat sich in der Forschung nicht durchgesetzt. Einige nehmen die „Schlacht von Maksimir“ am 13. Mai 1990 als Ausgangspunkt, ein Fußballspiel zwischen den kroatisch-serbischen Erzrivalen Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad, das in heftige Kämpfe ausartete, an denen sich auch Spieler beteiligten (JF 20/20). Andere bevorzugen den 31. März 1991, als es zu ersten konkreten Kampfhandlungen zwischen kroatischen und serbischen Polizeieinheiten und Freischärlern kam, in denen die beiden Todesopfer der „Blutigen Ostern an den Plitvicer Seen“ – ein Kroate und ein Serbe – von beiden Seiten zu Märtyrern stilisiert wurden. Im Mai kamen beim „Scharmützel von Borovo Selo“ in Slawonien zwölf kroatische Polizisten und drei serbische Zivilisten ums Leben. Drei der kroatischen Leichname wurden kurz darauf von den Serben verstümmelt an die Kroaten zurückgeschickt – ein erster Vorgeschmack auf die Brutalitäten und Grausamkeiten, die später den gesamten jugoslawischen Krieg prägen sollten. Als plausibelstes Datum für den Beginn erscheint jedoch der als Zehn-Tage-Krieg bezeichnete Slowenische Unabhängigkeitskrieg, der am 7. Juli 1991 mit dem Brioni-Abkommen offiziell beendet wurde, welches jedoch das Feuer auf dem Balkan erst so richtig entfachte. 

In der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien unter dem mit religiöser Inbrunst verehrten Staatschef Tito war der Ausdruck ethnischer oder nationaler Identität strikt verboten und wurde unterdrückt. Nach dessen Tod 1980 ließ der Druck nach, und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die Zentrifugalkräfte nicht mehr aufzuhalten. Die Teilrepubliken Slowenien und Kroatien machten den Anfang und erklärten am 25. Juni 1991 ihre Unabhängigkeit. Am selben Tag besetzten slowenische Militär- und Polizeieinheiten sämtliche Grenzübergänge des Landes. In Österreich wurden daraufhin zusätzliche Einheiten des Bundesheeres an die österreichisch-slowenische Grenze verlegt, und es wuchs die Sorge vor einem Übergreifen des lokalen Konflikts auf ganz Europa. Bei den anschließenden Kampfhandlungen konnten sich die Slowenen gegen die Jugoslawische Volksarmee (JNA) behaupten. Im unter Vermittlung der damaligen EG verhandelten Brioni-Abkommen setzten die Slowenen ihre Unabhängigkeitserklärung für drei Monate aus, woraufhin die JNA sich zurückzog. Dies wird heute als Erfolg für Slowenien gewertet, das nach diesen drei Monaten sein Unabhängigkeitsbestreben erfolgreich fortsetzte und mit dem weiteren Kriegsverlauf nichts mehr zu tun hatte.

Dies bedeutete de facto das Ende der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Die in Belgrad ansässige Zentralregierung stand jetzt unter dem maßgeblichen Einfluß des Präsidenten der Teilrepublik Serbien Slobodan Milošević. Dieser setzte ab sofort auf eine großserbische Politik. Gebiete mit serbischer Bevölkerungsmehrheit in den Teilrepubliken wurden motiviert, sich für eine Angliederung an Serbien einzusetzen und dafür militärisch, unter anderem mit den Resten der JNA, unterstützt. In diesem Sinne hatte Slowenien Glück, daß es dort nur einen serbischen Bevölkerungsanteil von zwei Prozent gab.

Anders sah es in Kroatien aus. Dort lebten 580.000 Serben, was einem Anteil von etwa zwölf Prozent entsprach. Aus heutiger Sicht wird deutlich, daß der Slowenienkrieg unmittelbar in den ungleich brutaleren – im Zehn-Tage-Krieg starben lediglich um die 100 Menschen und es kam zu keinen nennenswerten materiellen Schäden – und längeren Kroatienkrieg überging. In den von Serben dominierten Gebieten Kroatiens, in der zentralen Krajina und im östlichen Slawonien, spitzte sich zur gleichen Zeit die Lage zu. Bereits nach dem Zwischenfall an den Plitvicer Seen drohte der spätere Präsident der völkerrechtlich nie anerkannten Republik Serbische Krajina, Milan Babić, „gesetzt den Fall, Kroatien erklärt sich unabhängig, werden wir Serben der Krajina nicht zögern, einen Krieg zu führen“. 

Mitte Juli 1991 wurde die Ankündigung Realität. Die heiße Phase des kroatisch-serbischen Krieges begann: Im fünf Kilometer von Knin entfernt liegenden Dorf Kijevo wurden die kroatischen Bewohner mit brutaler Gewalt vertrieben – die ersten Opfer der „ethnischen Säuberungen“ im ehemaligen Jugoslawien. Zwischen August und Dezember 1991 wurden aus den serbisch kontrollierten Gebieten Kroatiens schätzungsweise 80.000 Kroaten und Muslime vertrieben. Neben Paramilitärs waren auch Verbände der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) am Krieg beteiligt. Die Einheiten der JNA, die sich Ende Juli aus Slowenien nach Kroatien zurückgezogen hatten, intervenierten dabei immer offener auf seiten der serbischen Minderheit.

Massaker an Zivilisten und grausame Vertreibungspolitik

Ab September 1991 belagerten die militärisch überlegenen serbischen Einheiten die Stadt Vukovar, die im November fiel. Bei der Einnahme Vukovars sangen serbische Tschetniktruppen: „Wir schlachten die Kroaten ab.“ Der Fall Vukovars bedeutete gleichzeitig den Beginn systematischer sogenannter ethnischer Säuberungen eroberter Gebiete. Serbische paramilitärische Einheiten räumten am 20. November 1991 das Krankenhaus der Stadt, erschossen knapp 200 Patienten und verscharrten diese in Massengräbern. Maßgeblich beteiligt an der Aktion waren „Arkans Tiger“, eine aus einer Hooligantruppe von Roter Stern Belgrad hervorgegangene Freischärlertruppe, die bereits in der oben genannten „Schlacht von Maksimir“ mitgemischt hatte. Anders als jedoch in vielen westlichen Medien kolportiert, setzten auch die Kroaten gezielt auf eine Politik der ethnischen Säuberungen. So wurden im November 1991 systematisch serbische Häuser gesprengt, in Gospic und in Slawonien Serben gewaltsam vertrieben. Der im Westen respektierte Präsident Kroatiens Franjo Tuđman entging nur durch seinen Tod 1999 einer Anklage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, wie die damalige Chefanklägerin Carla del Ponte 2011 zu Protokoll gab. Aus heutiger Sicht wird die Schlacht von Vukovar als Pyrrhussieg für die Serben gewertet. Die Kroaten nutzen die Bindung serbischer Streitkräfte zum Aufbau einer neuen Armee und besetzten zugleich strategisch wichtige Linien im Rest des Landes. Mittel- und langfristig sollte sich das Kriegsglück auch aus diesen Gründen zugunsten Kroatiens wenden.

Das Muster des Kroatienkrieges – Unabhängigkeitserklärung einer Teilrepublik, Erklärung einer eigenen serbischen Republik innerhalb dieses neuen Staates, Krieg unter Einsatz ethnischer Säuberungen – sollte sich ab April 1992 im Bosnienkrieg wiederholen. Hier ereignete sich auch der negative Höhepunkt dieser genozidalen Kriegsführung. Im Juli 1995 eroberten serbische Einheiten unter General Ratko Mladić die UN-Schutzzone im bosnischen Srebrenica und ermordeten in wenigen Tagen knapp 8.000 männliche Zivilisten.

Der Jugoslawienkrieg fand zunächst im toten Winkel des Weltgeschehens statt. Zu Beginn der neunziger Jahre herrschte im gesamten Westen im allgemeinen und in Deutschland im besonderen Aufbruchsstimmung. Der Kommunismus war besiegt, Deutschland wiedervereinigt. Theorien vom „Ende der Geschichte“ proklamierten das Ende aller globalen Konflikte und den ungehinderten Siegeszug einer liberal-demokratischen kapitalistischen Weltordnung. Eine naiv-überhebliche Selbsttäuschung, wie ein Blick auf den Balkan zeigte. Was gerade viele Deutsche nicht wahrhaben wollten und weiterhin nicht wahrhaben wollen, manifestierte sich hier mit aller Kraft: Nationale, ethnische und religiöse Kategorien bleiben weiterhin relevante Antriebskräfte des historischen Geschehens. Diese mögen verleugnet oder delegitimiert werden – aus der Welt schaffen lassen sie sich nicht. 

Foto: Serbische Einheiten beschießen mit Artillerie die Altstadt der belagerten kroatischen Adriastadt Dubrovnik, November 1991: Direkt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war kaum jemand in Europa auf den Krieg in Jugoslawien gefaßt