© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/21 / 16. Juli 2021

Immer mehr Atheisten: Die Islamisierung der Türkei ist kein Selbstläufer
Kemals unterirdisches Erbe
(ob)

Im Eingang des Diyanet İşleri Başkanliği in Ankara, einer Kombination aus Ministerium und Kultusamt mit sagenhaften 120.000 bis 150.000 Mitarbeitern, hängt das Porträt von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Ein historisch pikanter Kontrast, auf den der Orientexperte Hannes Schreiber aufmerksam macht (Herder-Korrespondenz, 6/2021). Denn Kemal war Atheist, schaffte 1924 das Kalifat ab und verfolgte eine Politik der Überwindung des Islam, der den türkischen Weg in die Moderne behinderte. Heute drücke das Bild türkische Wirklichkeit nicht mehr aus, denn Kemals Trennung von Religion und Staat wurde in der Ära Recep Tayyip Erdoğans revidiert. Und seit dem 2016 gescheiterten „Staatsstreich“, den Erdoğan jedenfalls zur Ausbootung der „Bewahrer des Säkularismus“ vor allem in der Armee nutzte, gebe es keine Instanz mehr, die den wachsenden religiösen Einfluß auf die Politik stoppen könnte. Trotzdem sei die Islamisierung kein Selbstläufer, was sich an der Zahl der Atheisten in der Türkei ablesen lasse, die sich seit 2016 verdreifachte. Und außenpolitisch rangieren nationale Interessen weiter vor religiösen Präferenzen. Nur die Aufnahme syrischer Flüchtlinge erfolgte aus muslimischer Solidarität. Zum Glück, denn die Migrationspolitik eines laizistischen Regimes hätte „dramatische Folgen für Europa“. 


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