© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/21 / 16. Juli 2021

Rückfall ins Stammesdenken
Das Wir-Problem und die Identitätspolitik – eine Debatte über westliche Zerfallsprozesse
Dirk Glaser

Wenn der „gesellschaftliche Zusammenhalt“ mit solcher Inbrunst beschworen wird, wie derzeit von der Regierungsmannschaft der noch amtierenden Bundeskanzlerin, dann ist das ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, daß er schon weitgehend verlorengegangen ist. Vierzig Millionen Euro für einen Forschungsverbund „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ zu spendieren, hilft da nicht mehr. Erst recht nicht, delirierend eine Milliarde Euro für den „Kampf gegen Rechts“, unter anderem an Antifa-Agenturen wie die Antonio-Amadeu-Stiftung einer Annetta Kahane auszuschütten, die fortgesetzte soziale Spaltung durch Einwanderung propagiert, weil ihr vor allem im Osten die Republik noch „zu weiß“ ist.

Auch bei der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), die sich als „Denkfabrik der CDU“ versteht, ist man über den sich rasant vollziehenden Zerfallsprozeß beunruhigt. Deshalb hat die Redaktion des Stiftungsorgans Die Politische Meinung (1-2/2021) ein paar kluge Köpfe eingeladen und sie um Diagnosen gebeten zum „größten Streßtest, den liberale Gesellschaften seit 1945 zu bestehen haben“. Abgesehen von der hauseigenen Kraft, der in der KAS für Frauen- und Familienpolitik zuständigen Soziologin Christine Henry-Huthmacher, repräsentieren die übrigen Beiträger ein moderat heterogenes, linksliberales bis libertäres Milieu, das sich trotzdem mit der CDU-Fachfrau einig ist: es ist die „Identitätspolitik“, die westliche Demokratien und ihre Institutionen auf diese harte Probe stelle.

Darunter versteht man, wie Henry-Huthmacher korrekt definiert, das Eintreten einer Gruppe für ihre spezifischen Rechte und Interessen hinsichtlich Herkunft, Bekenntnis und Geschlecht. Dabei geht es primär um Minderheitenrechte, wobei die mit aggressiver Wucht gegen die Mehrheitsgesellschaft erhobenen Forderungen ethnischer, islamisch-religiöser, homo- und transsexueller Minderheiten den laufenden „Kulturkampf“ dominieren. Wie es dazu kommen konnte, erklärt Henry-Huthmacher mit einer von einflußreichen US-Intellektuellen wie Francis Fukuyama und Mark Lilla vertretenen These: In der politischen Arena, zunächst in den USA, seit der Jahrtausendwende auch in Westeuropa, sei die soziale Frage, Unterprivilegierung und ökonomische Ungleichheit, durch Debatten über Rassismus, Gender und Sexismus überlagert worden. Wozu nicht wenig die unfaßbare Resonanz des vom Diversity-Guru Michel Foucault kreierten, „Teile- und herrsche“-Strategen wie maßgeschneidert passenden „Kults des Außenseitertums“ (Guido Giacomo Preparata, Die Ideologie der Tyrannei, Berlin 2015) beitrug. 

Für die Soziologin Ulrike Ackermann, Leiterin des libertären John-Stuart-Mill-Instituts für Freiheitsforschung (Bad Homburg), liegt hier der Ursprung des gegenwärtigen „Aufstands gegen die globalisierte Moderne“, der dem Westen eine „grenzenlose, konfliktreiche Unübersichtlichkeit bescherte“. Alle Debatten nehmen heute ihren Ausgang von den politischen Rändern und münden umgehend in moralisch maximal aufgeladenen Polarisierungen. 

Angesichts dieses gegen die Rationalität tobenden Kriegs, der selbst Immanuel Kant, den Apostel der Aufklärung, als „Rassisten“ und Prediger nur „weißer Vernunft“ denunziere, könne jetzt jedermann einen „Rückfall in den Tribalismus“ beobachten: „Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen.“ Als libertäre Konvertitin, die in den 1990ern Redakteurin der sozialdemokratischen Frankfurter Hefte und Mitarbeiterin des Hamburger Instituts für Sozialforschung war, hat Ackermann wenig Lust, einer abzuwandelnden Maxime Max Horkheimers zu gehorchen: „Wer über den Kapitalismus nicht reden will, sollte vom Tribalismus schweigen.“ Sie blendet daher die realen Machtverhältnisse im Kapitalismus aus und stößt nicht zur Frage vor, ob die ihr als Aufstand gegen die Globalisierung erscheinende, vom „westlichen Selbsthaß“ befeuerte Zersetzung nicht im ureigenen Interesse herrschender Globalisten liegt. 

Politische Kollektivität wird im Nationalstaat am besten realisiert

Auch der Philosoph Dieter Thomä (St. Gallen), der zunächst die „Aushöhlung der Demokratie durch den Neoliberalismus“ aufs Korn nimmt, wartet dann mit einem Freispruch für die „Eliten“ auf: Zumindest „in Deutschland wird das demokratische ‘Wir’ nicht von oben angegriffen, wohl aber von unten“. Da ist selbst die CDU-Frau Henry-Huthmacher näher an den Realitäten: Die rechte „Identitäre Bewegung“ begreife sich schließlich nicht von ungefähr als „Verteidigerin einer lokalen Kollektivität, die sich im Prozeß der Globalisierung aufzulösen drohte“. Ihr ist also klar, wer hier angreift. Sie wäre auch nicht so plump wie Thomä zu behaupten, daß Demokratie durch Migration, „Offenheit und Beweglichkeit, Zulauf von allen Seiten“, an Stärke gewinne. Was der Soziologe Armin Nassehi (München) für einen schlechten Witz hält. Denn nicht die marktkonform atomisierte Gesellschaft der 1.000 Filterblasen bewohnenden Kleingruppen sei der beste Garant der Demokratie, sondern der Nationalstaat – „der bis dato erfolgreichste Versuch, politische Kollektivität zu erzeugen“. 


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