© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/21 / 16. Juli 2021

Der Bio-Code der Erinnerung
Neuronale Gedächtnisstützen und epigenetisch zementierte Folgen frühkindlicher Verletzungen
Dieter Menke

In einer der berühmtesten Passagen der Weltliteratur bringt das Aroma eines in den Tee getauchten Gebäcks die in Chartres bei Paris („Combray“) verbrachte Jugendzeit des Erzählers für eine herausgehobene, dem Strom der Zeit entzogene Minute zurück. Längst Vergessenes lebt in dem siebenbändigen Marcel-Proust-Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ in der Gefühlserinnerung wieder auf. Ein im Unterbewußtsein versunkener Kinderkosmos wird kurz seelische Wirklichkeit.

Auch Johannes Gräff (ÉPFL Lausanne) versichert, ihm seien seine halsbrecherischen Dreirad-Fahrten von vor 36 Jahren noch im Detail präsent. Und der Schweizer Neurowissenschaftler glaubt, für dieses vielen Menschen bekannte Phänomen unauslöschlicher Kindheits- und Jugenderinnerungen nun eine ganz unpoetische Erklärung anbieten zu können (Gehirn & Geist, 5/21). Die geht von der Tatsache aus, daß die meisten Bestandteile der Nervenzellen ungeeignet sind, um Eindrücke über Jahre oder gar Jahrzehnte zu speichern. Denn Neuronen bestehen größtenteils aus Proteinen mit einer Halbwertzeit von maximal wenigen Tagen.

Chemische Anhängsel aus Essigsäureresten im Gehirn

Aber es gibt einen besonders wichtigen Zellbaustein, der äußerst stabil ist: der genetische Informationsspeicher im Zellkern, der aus der in Chromosomen kondensierten Desoxyribonukleinsäure (DNS; englisch: DNA) besteht. Lange umstritten, gilt es heute als gesichert, daß sich auch Erinnerungen in Form chemischer Veränderungen der DNS ins Erbgut eingehen. Den ersten Nachweis dafür führte 2004 David Sweatt (Vanderbilt University). Der US-Neurobiologe habe Ratten so konditioniert, daß ein bestimmter Ton sie in Angst versetzte.

Bei der Sektion ihrer Gehirne bemerkte Sweatt auffällig viele chemische Anhängsel aus Essigsäureresten an jenen Proteinkomplexen der Zelle, die den Chromosomen ihre Struktur verleihen. Diese zusätzlich zu den Genen entstandenen, daher als „epigenetisch“ bezeichneten Anhänge waren gerade bei solchen Genen zu finden, die für das Langzeitgedächtnis wichtig sind. Sie dienen, so lautet Sweatts von Gräff übernommene hypothetische Folgerung, dem Gehirn womöglich als „Gedächtnisstütze“.

Vor elf Jahren konnte Sweatt nachweisen, daß solche epigenetischen Veränderungen im Rattenhirn auch nach 30 Tagen noch vorhanden waren, was einem menschlichen Erinnerungsvermögen von zehn Jahren entspricht. Zudem gelang es ihm, solche DNS-Modifikationen mit Hilfe pharmakologischer Substanzen rückgängig zu machen, was bei den Versuchstieren zum Gedächtnisverlust führte. Einen ähnlichen Effekt beobachtete Gräff bei der Gedächtnisbildung gesunder Tiere, die gehemmt wird, wenn Enzyme fehlen, die diesen Vorgang steuern.

Die Hoffnung, mit diesem Enzym einen Schlüssel zur Heilung von Morbus Alzheimer in der Hand zu haben, erfüllte sich bis heute jedoch nicht. Die kognitive Leistung ließ sich nicht durch Zugaben des Enzyms regenerieren. Was auch daran liege, daß den Probanden das Mittel zu einem Zeitpunkt verabreicht wurde, zu dem die Krankheit bereits zu weit fortgeschritten war. Die Mediziner seien hier schon deshalb schlicht zu spät dran, weil die pathologischen Deformationen lange vor den erstmals bemerkten Gedächtnisproblemen einsetzten.

Allerdings eröffnet sich der Epigenetik neben der Alzheimer-Forschung noch ein weites Anwendungsfeld bei der Aufklärung von Langzeitfolgen von frühkindlichem Streß. Haben doch epigenetische Gedächtnisstützen nicht nur positive Seiten: „Da sie beim Lernen entstehen, können sie auch negative Erinnerungen auf dem Erbgut zementieren.“ Was wiederum im Experiment mit Ratten nachgewiesen wurde: Im Vergleich zu Tieren, die nach der Geburt in den Genuß mütterlicher Fürsorge kamen, gewärmt und abgeleckt wurden, verhielten sich vernachlässigte Artgenossen äußerst ängstlich und reagierten schnell gestreßt.

Diese Unterschiede zeigten sich auch in ihrem Erbgut. Das Gen GR-1, das die Streßreaktionen des Körpers reguliert, hatte besonders viele epigenetische Anhänge, sogenannte Methylgruppen, die dessen Aktivität blockierten. Also zirkulierten mehr Streßhormone im Rattenhirn, die die höhere Nervosität der Tiere verursachten. Über dementsprechende Abläufe bei Menschen liegen mittlerweile ebenfalls Studien vor. So zeigen Gehirne von Suizidopfern Spuren körperlicher Mißhandlung oder sexuellen Mißbrauchs in der Kindheit, die am GR-1-Gen abzulesen sind. 

Bei traumatisierten Personen war dieses Gen deutlich stärker methyliert als bei Verstorbenen, in deren Biographie in der Kindheit erlittene seelische Verletzungen nicht vorkamen. „Es ist bei Menschen also wie bei Ratten: Wer frühes Leid erfährt, trägt langfristige Spuren auf seinem Genom davon, die die weitere psychische Gesundheit beeinflussen.“ Epigenetische Weichenstellungen, die im Selbstmord enden könnten, haben Psychologen und Kinderärzte der University of British Columbia (UBC Vancouver) sogar in der Zeit vor der Geburt ausgemacht, indem sie die Gemütslage werdender Mütter vom vierten Schwangerschaftsmonat bis zur Geburt untersuchten und dabei latent depressive Teilnehmerinnen identifizierten.

Wie wird aus dem Schlangentanz der Nukleinsäuren Bewußtsein?

Wie sich herausstellte, wies bei den Kindern der ängstlich-depressiven Mütter das GR-1-Gen schon direkt nach der Geburt eine vermehrte DNS-Methylierung auf. Und prompt zirkulierten bei ihnen nach drei Monaten auch mehr Streßhormone im Blut als bei den Kindern der psychisch stabilen Mütter. Diese Ergebnisse des kanadischen Forscherteams seien ein starkes Indiz dafür, daß bereits die Embryonalphase ausreiche, um die Streßantwort eines Kindes über epigenetische Gedächtnisstützen zu prägen. Wenn Erlebnisse sich in das Epigenom derart einbrennen, nutzt das Gehirn „vielleicht“ einen evolutionär alten, äußerst stabilen Erinnerungsmechanismus. Ob es uns jemals gelingen werde, diesen epigenetischen Gedächtnis-Code zu entschlüsseln, hält Gräff angesichts der 80 Milliarden Nervenzellen des menschlichen Gehirns, die wiederum je 100.000 Proteinkomplexe (Histone) enthalten, für unwahrscheinlich.

Es ist daher nicht zu erwarten, daß epigenetisch zu klären ist, warum aus Materie Geist, warum aus dem Schlangentanz der Nukleinsäuren Bewußtsein entsteht, warum Erlebnisse überhaupt im Erbgut abgelegt werden, und warum bestimmte Erlebnisse, Prousts Gebäck-Genuß oder Gräffs Dreiradfahrten, mitunter lebenslang abrufbar bleiben, während Myriaden von Impressionen im Nichts verschwinden.

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