© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

„Ungeist der Machtgier“
Nicht nur gegen Polen und Ungarn, auch gegen Berlin führt die EU ein Vertragsverletzungsverfahren: Ausgelöst durch ein Bundesverfassungsgerichtsurteil, das der Jurist und Ökonom Markus C. Kerber mit erstritten hat. Worum geht es bei den Prozessen?
Moritz Schwarz

Herr Professor Kerber, um was geht es bei den Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Polen?

Markus C. Kerber: Beide Regierungen haben Gesetze verabschiedet, die offenkundig mit den Werten der Europäischen Union gemäß Artikel 2 des EU-Vertrags unvereinbar sind. In Polen ist seit dem Wahlsieg der PiS 2015 nicht nur eine sehr konsequente Personalpolitik gegen Kritiker der Regierung im Gange, sondern findet ein Umbau der Justiz statt, der in wesentlichen Punkten mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nicht vereinbar ist. Wer dies nicht respektiert, stellt sich außerhalb der EU. Allerdings gilt das für alle Mitgliedsstaaten, auch für Frankreich. Dort ist es mit der Unabhängigkeit der Justiz nicht weit her.

Wie bitte? Inwiefern denn das?

Kerber: Ich habe viele Jahre in Paris als Anwalt gearbeitet. Das gibt viel Anschauung und ließ mich in Abgründe schauen. Die Justiz führt in der Verfassung der Fünften Republik ein stiefmütterliches Dasein. Dies ist politisch gewollt in dieser Wahlmonarchie, und niemand – außer einigen Professoren – will es wirklich ändern. In meinem Buch „Europa ohne Frankreich?“ finden sich amüsante Anekdoten zu jener Comédie française, die sich Justiz nennt. Aber die Kommission würde nie gegen Frankreich vorgehen. Die Verbindung zwischen Frau von der Leyen und Monsieur Macron ist bekanntlich eng.

„Warum Polen und Ungarn, nicht aber Rumänien und Bulgarien?“  

Also sind die Verfahren gegen Polen und Ungarn tatsächlich begründet? Dahinter steht nicht nur politische Animosität gegen die PiS- und Fidesz-Weltanschauung?

Kerber: Wie bereits ausgeführt, sind die Beanstandungen prinzipiell begründet. Angesichts der Insistenz der polnischen Regierung, die „Reform der Justiz“ in ihrem Sinne weiterzuführen, hat die EU-Kommission keine Wahl. Sie ist als „Hüterin der Verträge“ verpflichtet, hiergegen vorzugehen. Insofern besteht an der grundsätzlichen Berechtigung eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Artikel 258 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) gegen Polen kein Zweifel. Indes fragt sich der um strenge Observanz – also die Einhaltung der Regeln – bemühte Beobachter, warum die EU-Kommission nicht seit langem die Verhältnisse in Rumänien und Bulgarien unter die Lupe nimmt. Wer für sich in Anspruch nimmt, Hüterin der Verträge zu sein, darf nicht auf einem Auge blind sein. Denn so könnte der Eindruck entstehen, daß die Kommission nur gegen ihr miß­liebige Regierungen vorgeht. Diese Regierungen verfügen immerhin über solide Mehrheiten im eigenen Lande. Und diese demokratische Legitimation werden die Regierungen Polens und Ungarns in der Auseinandersetzung mit der Kommission ins Feld führen. Denn die EU-Kommission dagegen verfügt über keinerlei demokratische Legitimation.

Sie haben selbst Erfahrungen mit dem polnischen Verfassungsgerichtshof gemacht. Welche?

Kerber: Dessen Präsidentin hatte mich 2019 zu einem Vortrag über den Schutz der deutschen Verfassung, des Grundgesetzes, gegen sogenannte „Ultra vires“-Akte der EU – also Maßnahmen, die über die Kompetenzen der Union hinausgehen – eingeladen. Eine solche Einladung schlägt man nicht aus. Dies wäre eine Geringschätzung des polnischen Verfassungsgerichtshofes durch einen deutschen Juristen gewesen. Mein Vortrag auf englisch – nach einem kurzen Dankeswort auf polnisch – war nüchtern und entsprach der Komplexität der Materie. Doch ist er entgegen der Absprache mit dem polnischen Verfassungsgerichtshof bis heute nicht veröffentlicht worden. Die Veranstaltung wurde von einer ausgesuchten Zahl von Zuhörern besucht. Ich hatte darauf bestanden, daß die Leiterin des Warschauer Büros des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) zugegen sein konnte. Die Berichterstattung in den Medien war von dem Versuch geprägt, meine Ausführungen zumindest als nachsichtiges Verständnis mit den national-souveränen Positionen der Regierung zu vereinnahmen. Damit sollte man zu leben wissen. Der Dialog mit Polen muß dennoch weitergehen. Wir können uns unsere Nachbarn und ihre Regierungen nicht aussuchen. Was nun meine Eindrücke über die Qualität und Unabhängigkeit der polnischen Verfassungsrichter anbelangt, bitte ich um Verständnis für meine Zurückhaltung. Es gibt aber, besonders in der polnischen Presse, hinreichend Artikel, die sich mit der personellen Besetzung des Gerichts und der Qualifikation der Präsidentin auseinandersetzen.

Kann von einer, wie es mitunter heißt, „Gleichschaltung der Justiz in Polen“ gesprochen werden?

Kerber: Der Verfassungsgerichtshof Polens und seine personelle Besetzung liefert für eben diese Gleichschaltung ein eindrucksvolles Beispiel. Nie würde das gegenwärtige Gremium die eigene Verfassung gegen die Regierung verteidigen. Die jüngsten Entscheidungen dieses Gremiums belegen seine politische Willfährigkeit.

„Der EuGH droht, zum ‘Gehilfen’ der EU-Kommission zu werden“

Auch gegen Deutschland läuft ein Vertragsverletzungsverfahren. Ausgangspunkt: Sie hatten 2015 gegen die Anleihekäufe durch die EZB in Karlsruhe geklagt. Nun richtet sich das Vertragsverletzungsverfahren gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2020, das die Anleihekäufe in der Tat teilweise für grundgesetzwidrig befunden hat. Klagt die EU-Kommission also quasi gegen Sie?

Kerber: Das Verfahren der Kommission gegen Deutschland gemäß Artikel 258 AEUV wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 ist in keiner Weise mit den Verfahren gegen Polen und Ungarn vergleichbar. Es veranschaulicht ferner die zunehmenden Konflikte der Kommission mit ihren widersprüchlichen Rollen sowohl als Hüterin der Verträge, wie auch als legislative und exekutive Treiberin der europäischen Integration. Bei diesem Vertragsverletzungsverfahren ist besonders auffallend, daß die EU-Kommission der Bundesregierung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts „vorwirft“, weil dieses angeblich nicht den Vorrang des EU-Rechts und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) respektiert habe. Damit aber begibt sich die Kommission unter Frau von der Leyen in Widerspruch zu ihren eigenen Postulaten – nämlich der richterlichen Unabhängigkeit in den Verfahren gegen Polen und Ungarn. Wie kann überhaupt das Urteil des höchsten deutschen Gerichts Gegenstand eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens sein – zumal Artikel 4 II des EU-Vertrags ausdrücklich die Achtung der nationalen Verfassungsidentität durch die EU festschreibt?  

Sie meinen also, das gehe eigentlich gar nicht?

Kerber: Zur Verfassungsidentität gehört in Deutschland das Bundesverfassungsgericht, das unabhängig Verfassungsrecht auslegt. Das Ergebnis dieser Rechtsauslegung kann also nie Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens sein, das sich auf den Vorrang des EU-Rechts und die bindende Auslegung durch den EuGH beruft. Im übrigen hat das Bundesverfassungsgericht die Rollenteilung mit dem EuGH nie in Frage gestellt, sondern nur in diesem Einzelfall seine Auslegung in Deutschland für unverbindlich erklärt, weil die Ausführungen des EuGH zum Anleihenkaufprogramm der EZB „schlechthin nicht mehr nachvollziehbar“ waren. Man könnte indes noch sehr viel mehr Urteile des EuGH zitieren, die wenig nachvollziehbar sind.

„Damit will Frau von der Leyen den  Deutschen die Souveränität stehlen“

Zum Beispiel?

Kerber: Etwa das Urteil vom 15. Juli 2021 zur Abgabe der Banken an den EU-Bankenabwicklungsfonds und die Entscheidung im Vergabeverfahren wegen der Galileo-Satelliten, der europäischen Antwort auf das amerikanische Navigationssystem GPS. Der EuGH gerät zunehmend in Verdacht, ein Gehilfe der Kommission zu werden, wenn er formuliert, daß eine Vermutung dafür spreche, daß sich die Kommission an ihre Rechtsgrundlagen halte. Mit dem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland hat die Kommission den Ungeist der Machtgier aus der Flasche gelassen. Sie will die ungeteilte Macht für sich und strebt nach Souveränität gegenüber den Mitgliedsstaaten. Wir sollten die Gelegenheit nutzen, um die fragwürdige Zwitterstellung der EU-Kommission, sowohl als Treiberin der Integration wie als Hüterin der Verträge zu problematisieren. Auch die Judikatur des EuGH verdient in ihrer Gesamtheit mehr kritische Aufmerksamkeit. Gewiß hat der EuGH historische Verdienste bei der Operationalisierung des EU-Rechts. Allerdings darf er nicht zur Autonomisierung des EU-Rechts beitragen oder eine legislative Souveränität der Kommission absegnen.  

Sie meinen, daß die – nicht demokratisch legitimierte – Kommission beginnt, ihr eigenes EU-Recht zu setzen?

Kerber: Eben, EU-Recht bleibt von den Nationalstaaten abgeleitetes Recht, dessen Anwendung und Auslegung dem Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung gemäß Artikel 5 des EU-Vertrags unterworfen ist. Alles andere würde die Einführung eines EU-Bundesstaates durch die Hintertür – ohne demokratische Legitimation – bedeuten. In seinem Lissabon-Urteil vom 9. Juni 2009 hat das Bundesverfassungsgericht unmißverständlich darauf hingewiesen, daß hierfür ein Volksentscheid gemäß Artikel 146 Grundgesetz unverzichtbar wäre. Doch davor hat die Kommission von Frau von der Leyen Angst. Denn diese Behörde mißtraut den Völkern Europas. Daher konnte sich Charles de Gaulle für sie nie erwärmen. Ihm war die Volkssouveränität heilig. Genau diese Souveränität will Frau von der Leyen den Deutschen mit ihrem Verfahren stehlen.            

„Das Europaparlament dürfte gar nicht ‘Parlament’ genannt werden“

Aber wir haben doch das Europäische Parlament, das die Interessen der Bürger und Völker vertreten soll.

Kerber: Die demokratische Legitimation des Europaparlaments ist unzureichend. Darauf hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil klärend hingewiesen. Es repräsentiert weder die Bürger noch die Völker Europas, sondern ist in seiner übergroßen Mehrheit eine Versammlung von EU-Lobbyisten auf Kosten der Steuerzahler. Es fügt sich auf hohem Ausgabenniveau in das Brüsseler Gewaltenkonglomerat und sucht – höchst eigensüchtig – nach mehr Macht für sich. Es dürfte gar nicht als Parlament bezeichnet werden. Es ist eine Beschäftigungsgesellschaft für Politiker.

Was ist mit dem Europäischen Gerichtshof, vor dem all diese Vertragsverletzungsverfahren ja verhandelt werden. Sie haben je eben schon davon gesprochen, er gerate „zunehmend in Verdacht, ein Gehilfe der Kommission zu werden“. Ist von diesem – als einer EU-Institution – denn ein unvoreingenommenes Verfahren zu erwarten, bei dem die EU gleichzeitig, in Gestalt der Kommission, Beteiligter und Ankläger ist?

Kerber: Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hat auf eben diesen Interessenkonflikt ja dankenswerterweise bereits hingewiesen.
Welche Rolle spielt Ursula von der Leyen, ist sie für das Verhalten der Kommission eigentlich irrelevant, oder halten Sie sie für eine treibende Kraft?
Kerber: Frau von der Leyen ist auf Vorschlag des französischen Staatspräsidenten ernannt worden. Sie hatte sich als Verteidigungsministerin jahrelang bei vielen militärischen Projekten Frankreich angedient. Mit Deutschland hat die Kommissionspräsidentin seit ihrer Ernennung nichts mehr zu tun. So wird sie auch von vielen ihrer Parteifreunde eingeschätzt.

Dann hat Europa „die Völker“ also verloren?

Kerber: Leider ist der Befund so. Die EU mit ihren Brüsseler Granden wird zunehmend als eine selbstreferentielle Zentralisierungsbehörde empfunden.

Ihr neues Buch „Der deutsche Selbstmord“ ist erschienen. Darin stellen Sie die These auf, „unser Land wird in der Corona-Krise für Europa geopfert“. Inwiefern?

Kerber: Das Buch beschäftigt sich einerseits mit der Rechtserosion in der EU, die auch von Bundesbank und Bundesrechnungshof moniert wird: EU-Schulden sind in den Verträgen nicht vorgesehen. Nun werden die schuldenfinanzierten Einnahmen benutzt, um 390 Milliarden Euro zu verschenken. Und die politische Klasse des Landes stimmt dem genauso zu wie der Bundestag. Mit der Aufnahme von circa 800 Milliarden EU-Schulden wird ein Quantensprung in Richtung Transferunion unternommen. Ein Volk, dessen Repräsentanten dem zustimmen, gibt sich auf.    




Prof. Dr. Markus C. Kerber: geboren 1956 in Bielefeld, lehrt öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der TU Berlin und als Gastprofessor in Warschau und Paris. Außerdem gründete er die Denkfabrik Europolis in Berlin. Für das Bundeskartellamt war er als Repräsentant im Beratenden Ausschuß der EU-Kommission für Wettbewerb tätig. Danach Tätigkeit für verschiedene Investmentbanken. Derzeit ist er Bevollmächtigter einer Verfassungsklage von CDU-Parlamentariern gegen den „Eigenmittelbeschluß“, die Erhöhung der Finanzierung der EU durch die Mitgliedsstaaten. Jüngst erschien sein Buch „Der deutsche Selbstmord. Wie unser Land in der Corona-Krise für Europa geopfert wird“.