© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Ahnungslos in der Nacht
Hochwasser: Politische Aufarbeitung der Katastrophe / Opposition nimmt Bundesregierung für Systemversagen in Mithaftung
Peter Möller

Noch steht die genaue Zahl der Toten nicht fest, die in der vergangenen Woche in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen Opfer der durch Starkregen hervorgerufenen Überflutungen geworden sind (siehe Seite 7). Auch die immensen materiellen Schäden lassen sich bislang nur grob abschätzen. Doch davon ungeachtet hat parallel zu den Aufräum- und Bergungsarbeiten bereits die politische Aufarbeitung der Naturkatastrophe begonnen. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob die Bevölkerung von den Behörden zu spät gewarnt worden ist, beziehungsweise, warum es offenbar teilweise überhaupt keine Warnungen gegeben hat. Hat der Katastrophenschutz versagt?

Am Wochenende war bekannt geworden, daß das Europäischen Hochwasser-Warnsystems Efas (European Flood Awareness System) bereits am 10. Juli eine erste Warnung gegeben hatte. „Die Tatsache, daß Menschen nicht evakuiert wurden oder die Warnungen nicht erhalten haben, legen nahe, daß etwas schiefgegangen ist“, sagte die britische Hydrologin Hannah Cloke, die an der Entwicklung von Efas beteiligt war, der Sunday Times. Dem ZDF sagte sie, es seien Daten zur Warnung über ein umfassend großes Gebiet an Deutschland übermittelt worden. Aber „irgendwo ist diese Warnkette dann gebrochen, sodaß die Warnungen nicht bei den Menschen angekommen sind“.

Viele Betroffene waren bis zuletzt völlig ahnungslos

Die Bundesregierung bestätigte Anfang der Woche die frühzeitige Warnung. So habe auch der Deutsche Wetterdienst (DWD), der in Deutschland für die Warnung vor extremen Wettereignissen zuständig ist, bereits am Montagmorgen, den 12. Juli 2021 um 6 Uhr, also zwei Tage vor dem Unwetter, über die bevorstehenden Starkregenereignisse informiert, teilte das zuständige Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. „Diese Information ging an die zuständigen Katastrophenschutzstellen der Länder, Landkreise und Kommunen. Die konkret daraus abzuleitenden Schutzmaßnahmen sind jeweils von den Einsatzkräften vor Ort zu treffen“, sagte ein Sprecher des Ministeriums am Montag.

Diese amtliche Warnung blieb nicht folgenlos. Denn das Innenministerium von Nord-rhein-Westfalen richtete aufgrund dieser Informationen eine sogenannte „Landeslage“ ein, um schnell reagieren zu können, wenn Kommunen Hilfe benötigen. Doch bei den meisten Bürgern in den betroffenen Gebieten kam diese Warnung offenbar dennoch nicht an – so gut die Informationsweitergabe zwischen den amtlichen Stellen auch geklappt haben mag, viele Betroffene waren bis zu letzt völlig ahnungslos. „Es bietet sich das Bild eines erheblichen Systemversagens, für das der Bundesinnenminister Seehofer unmittelbar die persönliche Verantwortung trägt“, sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP, Michael Theurer, der dpa und nahm damit die Bundesregierung in Mithaftung.

Der Leiter des dem Innenministerium unterstellten Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Armin Schuster (CDU), wies die Kritik zurück. „Unsere Warninfrastruktur hat geklappt im Bund“, behauptete Schuster am Sonntag im ZDF und spielte das Thema damit zurück in die Bundesländer. „Der Deutsche Wetterdienst hat relativ gut gewarnt.“ Das Problem sei, daß man oft eine halbe Stunde vorher noch nicht sagen könne, welchen Ort es mit welcher Regenmenge treffen werde. „Wir haben 150 Warnmeldungen über unsere Apps, über die Medien ausgesendet“, sagte Schuster, der Ende 2020 in sein Amt gekommen war, nachdem eine große Übung der Behörde, ein sogenannter Warntag, unter seinem Vorgänger fehlgeschlagen war. Schuster verwies jetzt darauf, daß die Warn-App Nina des BBK neun Millionen Nutzer habe. Wo die Menschen in den Hochwassergebieten durch Sirenen gewarnt worden seien und wo nicht, könne er im Moment nicht sagen. Noch sei man „in der Phase des Rettens“. Aber: „Das werden wir noch ermitteln müssen.“ Daß allerdings bei der Warninfrastruktur nicht alles zum Besten steht, musste auch Schuster einräumen. So wies er darauf hin, daß der Bund den Bundesländern mit einem 90 Millionen Euro umfassenden Programm beim Aufbau und der Modernisierung von Sirenen helfen will. Derzeit gibt es allerdings keinen bundesweiten Überblick über den aktuellen Bestand an Sirenen. Nach dem Ende des Kalten Krieges waren in Deutschland zahlreiche Sirenen abgebaut und die Verantwortung für die restlichen zum Großteil vom Bund auf die Kommunen übertragen worden. Doch nicht nur das: Gleichzeitig war das Bundesamt für Zivilschutz aufgelöst worden, an dessen Stelle erst 2004 das BBK trat.

Die verheerende Flutkatastrophe hat ein bezeichnendes Licht auf den Zustand des deutschen Zivil- und Katastrophenschutzes und die Zusammenarbeit von Bund, Ländern und den betroffenen Kommunen auf diesem Gebiet geworfen. Dazu passen auch Berichte über Bundeswehreinheiten, die zur Nothilfe in das Katastrophengebiet abkommandiert wurden und sich teilweise aufgrund der unklaren Zuständigkeiten selbständig zum nächsten Einsatzort durchfragen mussten. Es wird immer deutlicher, daß es an einer übergreifenden Einsatzleitung mangelt, die auch für eine Verzahnung über Ländergrenzen hinweg sorgt. Doch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat entsprechende Forderungen, den Katastrophenschutz künftig zentraler zu organisieren, abgelehnt. Die föderale Struktur des Katastrophenschutzes sei richtig, und zwar seit Jahrzehnten, sagte Seehofer. „Zentralismus verbessert hier gar nichts“.

Mittlerweile haben die Auswirkungen der Flutkatastrophe auch das politische Berlin erreicht. In der Opposition werden die Forderungen nach einer Sondersitzung des Bundestages lauter. Während die Grünen über die finanziellen Folgen der Katastrophe debattieren wollen, will die AfD-Fraktion die politische Verantwortung für das Desaster zum Thema machen.