© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Wechsel ist sicher
Jetzt geht’s los: Zwei Monate bis zur Bundestagswahl – und die Parteien bringen sich programmatisch in Stellung
Jörg Kürschner

Zum 20. Mal seit Gründung der Bundesrepublik wählen die Deutschen den Bundestag, und doch ist am 26. September vieles anders. Historische Wahlen sind es nicht, von denen Politiker gern sprechen, um die Wähler zur Stimmabgabe ihrer Partei zu motivieren. Eher sind es Ausnahmewahlen. Aus drei Gründen. Erstmals seit 1949 steht der personelle Wechsel im Kanzleramt bereits vor der Wahl fest, denn Angela Merkel kandidiert nicht mehr; nach 16 Jahren im dritthöchsten Staatsamt. Und mit dem monatelangen Pandemie-Ausnahmezustand sowie der Unwetterkatastrophe hat eine Zeit schneller Wählerwechsel begonnen.

So wird die Zahl der Briefwähler weiter steigen. Vorhersagen über die künftigen Mehrheitsverhältnisse sind also für die Demoskopen in diesem Jahr eine besonders harte Nuß. Hermann Binkert, Chef des Erfurter Meinungsforschungsinstituts Insa, das 2017 bei den Umfragen die Nase vorn hatte, betonte gegenüber der JUNGEN FREIHEIT: „Die Bundestagswahl beginnt mit der Briefwahl bereits Mitte August. Etwa jeder zweite, der überhaupt wählen wird, will die Briefwahl nutzen. Ein gutes Drittel der letztendlichen Wählerstimmen wird also bis Ende August, ein Monat vor der Bundestagswahl, abgegeben sein.“

Dementsprechend vorsichtig, fast ängstlich agieren die Politiker. Armin Laschet etwa, dem CDU/CSU-Kanzlerkandidaten, wurde bereits vorgeworfen, er wolle im Schlafwagen ins Kanzleramt. Nachdem er seinen hartnäckigen Konkurrenten, CSU-Chef Markus Söder, kräftezehrend niedergerungen hatte, schien die rheinische Frohnatur ermattet. Dabei müßte der nordrhein-westfälische Regierungschef sich wegen der Naturkatastrophe gerade jetzt als Krisenmanager beweisen. Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock hat ihr Hauptthema Klima- und Umweltschutz rasch ergänzt um den Zusatz „sozial gerecht“, nachdem erwartbare horrende Preissteigerungen bei Öl und Benzin für Aufregung gesorgt hatten. Spielen die Schreckensmeldungen aus den Hochwassergebieten den Grünen in die Umweltkarten? Verdrängen sie die peinlichen Schlagzeilen über Lebenslauf und Werbebuch? Bewerber Nummer 3, SPD-Mann Olaf Scholz, profiliert sich als Bundesfinanzminister mit milliardenschweren Aufbauprogrammen für die Flutopfer. Am vergangenen Mittwoch hat das Bundeskabinett die ersten Beschlüsse gefaßt.
AfD, FDP und Linke stellen keine Kanzlerkandidaten, müssen also um Aufmerksamkeit kämpfen, da die Exekutive in Krisen im Vordergrund steht. Die AfD-Führung gefällt sich darin, ihre Zerstrittenheit auf öffentlicher Bühne aufzuführen. Stichwort Transparenz. So rüffelte Co-Parteichef Jörg Meuthen im Fernsehen das Wahl-Spitzenduo Tino Chrupalla und Alice Weidel ob deren häufigen Moskau-Reisen.

Führungsprobleme anderer Art plagen die Linke. Die zwei neuen Parteichefinnen Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow sollten der SED-Nachfolgepartei eigentlich frischen Schwung für den Wahlkampf verleihen. Sie werden aber ständig mit dem Ausschlußantrag gegen die selbstbewußte Parteidiva Sahra Wagenknecht und dem Wahlboykott-Aufruf ihres Mannes Oskar Lafontaine gegenüber seinen saarländischen Genossen genervt. Und die FDP? Während der beschwerlichen Pandemie-Durststrecke haben die Liberalen die Gefährlichkeit von Corona nicht in Frage gestellt, wohl aber den Grundrechten und Freiheit einen hohen Stellenwert eingeräumt. Und ganz schnell hat Parteichef Christian Lindner wegen zuletzt günstiger Wahlumfragen wieder Oberwasser bekommen, nennt eine Kanzlerin Baerbock ein „geradezu fiktives Szenario“. Der Regierungsauftrag werde an die Union gehen, ist er sich sicher. „Stärker werden als die AfD“, die derzeit drittstärkste Fraktion im Bundestag, lautet die Devise in der FDP-Parteizentrale.

Der SPD bleibt nur Opposition oder Deutschland-Koalition

Koalitionsspekulationen, das Lieblingsthema der Politiker und wohl auch mancher Journalisten, sind nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt um eine interessante Variante bereichert worden. Stichwort Deutschland-Koalition. In Magdeburg verhandeln derzeit CDU, SPD und FDP über die Bildung einer neuen Regierung. Die Grünen müssen bald den Kabinettstisch verlassen, werden ersetzt durch die FDP. Ein Modell für den Bund? Jedenfalls ist die lange unwidersprochene These, die Grünen würden künftig mitregieren, im Berliner Regierungsviertel seltener zu hören. „Es muß auch eine Regierungsoption ohne die Grünen geben“, befeuerte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt die Diskussion unter Hinweis auf sinkende Umfragewerte der Öko-Partei.

Ein Unsicherheitsfaktor bleibt die SPD. Parteichef Norbert Walter-Borjans hat ein solches Bündnis bereits klar abgelehnt. Da aber eine Ampelkoalition unter Grünen- oder SPD-Führung zusammen mit der FDP derzeit wenig realistisch erscheint und auch Rot-Rot-Grün nur noch in linken Esoteriker-Zirkeln diskutiert wird, wäre eine Deutschland-Koalition wohl die einzige Möglichkeit für die SPD, den bitteren Gang auf die harten Oppositionsbänke zu vermeiden.

Die wachsenden Vorbehalte gegenüber Schwarz-Grün liegen auch an deren programmatischen Differenzen. Ein Blick in die Wahlprogramme schafft Klarheit. Einer Vermögenssteuer und der Erhöhung der Erbschaftssteuer wird von der Union „entschieden“ eine Absage erteilt. Der Solidaritätszuschlag soll für alle abgeschafft werden, auch für die zehn Prozent, die ihn noch bezahlen. Gleichwohl streiten CDU und CSU über einen Spielraum für Steuersenkungen. „Dazu haben wir nicht das Geld“, hatte Laschet in Richtung Bayern erklärt. Trotz der klaren Aussage im gemeinsamen Wahlprogramm. Die CSU werde an Steuersenkungen festhalten, die „schwarz auf weiß“ im gemeinsamen Wahlprogramm niedergeschrieben seien, widersprach Söder. Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Die Grünen wollen hingegen den Spitzensteuersatz für Besserverdienende von derzeit 42 auf 45 Prozent ab Jahreseinkommen von 100.000 und 200.000 Euro (Verheiratete) anheben. Für Einkommen ab 250.000 (Verheiratete 500.000 Euro) soll er auf 48 Prozent steigen. Und die FDP, die wohl auch für das noch 2017 verschmähte Jamaika-Bündnis mit CDU/CSU und Grünen zur Verfügung stünde? Die Liberalen gehen einen anderen Weg, wollen mit Steuerentlastungen das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Der Soli soll komplett abgeschafft werden. 

Die SPD will wie die Linke die seit 1997 ausgesetzte Vermögensteuer wieder einführen. Bei der Erbschaftsteuer soll es eine „effektive Mindestbesteuerung“ großer Betriebsvermögen geben. Ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 250.000 (Verheiratete 500.000 Euro) ist bei der Einkommensteuer ein Aufschlag von drei Prozent vorgesehen. Am Solidaritätszuschlag für höhere Einkommen hält die SPD fest. Kanzlerkandidat Scholz verspricht vollmundig, 96 Prozent der Steuerzahler zu entlasten.

Zur programmatischen Breite gehören 2021 auch gesellschaftspolitische Akzente: die Rechte von Homosexuellen etwa oder ein offenes Einwanderungsrecht. Dafür stehen längst nicht mehr nur die Grünen, sondern neben der SPD und Linken inzwischen auch die FDP. Ein „liberaler Feminismus“ soll die „Selbstbestimmung aller Individuen frei von gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen aufgrund ihres gewählten oder biologischen Geschlechts“ garantieren. Dazu hatte AfD-Fraktionsvizin Beatrix von Storch im Bundestag klare Kante gezeigt. „Sie sind moralisch desorientiert, politisch gemeingefährlich. Sie gehören nicht in die Regierung und nicht mal auf die Oppositionsbank, sondern in Behandlung.“ Das Plenarprotokoll am 19. Mai verzeichnete Empörung.




Rückenwind oder Brise von vorn? Die Startbedingungen der Parteien im Bundestag



CDU/CSU: Der Start war holprig, doch die Fehler der Konkurrenz machten Spitzenkandidat Armin Laschet zum mit derzeit 29 Prozent chancenreichsten Anwärter auf den Einzug in die Willy-Brandt-Straße 1. Fällt ihm sein Krisenmanagment nicht auf die Füße und hält Markus „Mütterrente“ Söder still, dürften die 30 Millionen Euro für schnarchige Plakate und einen Wahlsieg reichen.



SPD: Mit Olaf Scholz könnte man fast Mitleid haben: Hilfsmilliarden macht der Finanzminister locker, bei einer Direktwahl würden dem Hanseaten Wählerherzen zuwehen wie Men-tholzigarettenrauch. Doch die schlechten Umfragewerte der Sozialdemokraten (16 Prozent) kleben wie Kaugummi an der Sohle. Dazu ist die gerupfte Partei klamm: nur 15 Millionen Euro für die Kampagne.



AfD: Wer sind wir, und wenn ja, wie viele? Allem innerparteilichen Hickhack zum Trotz, steht die AfD stabil bei über 10 Prozent. Attacken von Linksextremen machen den Wahlkampf für Ehrenamtliche riskant. Etwa 5 Millionen Euro stehen fürs Wählerwerben zur Verfügung. Einen Teil davon braucht das Spitzen-Duo für eigenes Personal – wegen des innerparteilichen Hickhacks.



FDP: Kompagnie ist Schieterie, reimen norddeutsche Individualisten, die gegen Teamlösungen sind. Ein maßgeschneiderter Slogan für die Liberalen, deren Spitzenkandidat wie auch das Programm auf einen Nenner zu bringen sind: Christian Lindner. Für Auftrieb (12 Prozent) sorgte bürgerlicher Lockdown-Frust. 6 Millionen Euro können ihn in ein Ministerium kavalierstarten.



DIE LINKE: Die mehrfach umetikettierte Spaltungspartei ist der Holzmichel der Politik: Ja, sie lebt noch. Ob’s so bleibt? Ungewiß. Die 6 Prozent Umfragewerte dank Stammwählern in Volkssolidaritätsheimen sind demographisch flüchtig. Dazu die tiefe Kluft zwischen Gegnern und Zeugen Sahras ... Was, wenn trotz der knapp 7 Millionen (West-)Euro der Wiedereinzug mißlingt?



BÜNDNIS 90 - DIE GRÜNEN: Gestern noch auf stolzen Rossen, heute in die Brust geschossen: Die Stimmung bei den Grünen verlief komplementär zur Erderwärmung. Mit einer eigenen Kanzlerkandidatin die Energiewende-Kanzlerin beerben? Das wird wahrscheinlich nix. Doch mehr als 10 Millionen Euro dürften für einige Minister*innenpost*innen samt Dienstlastenfahrrad oder E-Auto reichen. (vo)