© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Unterlassene Hilfeleistung
Hochwasser: Sturzfluten reißen Schneisen der Verwüstung / Eine JF-Reportage aus dem Katastrophengebiet
Martina Meckelein / Marco Pino, Bad Neuenahr

Konzentration. Trotz. Verschlossenheit. All dies läßt sich in den Gesichtern der über und über mit Schlamm verdreckten Menschen ablesen. Sie schleppen mit Wasser vollgesogene Sofas auf die Straße. Teppichrollen, Gartenstühle, Kartonagen – kaum noch als das zu erkennen, was sie einmal waren. Ab und an umspielt ein Lächeln ihre Gesichter. In Gummistiefeln fegen, schaufeln und wringen sie gegen die braune muffige Brühe an. Dieselaggregate – ohne sie geht gar nichts mehr in den zerstörten Städten und Gemeinden an der Ahr, der Erft, der Rur, der Inde, dem Merzbach oder der Wurm – brubbeln laut vor sich hin. Hubschrauberrotoren zerschlagen die Luft. Kein böses Wort ist von den Menschen zu hören, die seit Tagen hier, teils unter Einsatz ihres Lebens, Hilfe leisten.

In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli hat eine bis dahin unvorstellbare Naturkatastrophe Teile des deutschen Westens zerstört. Mindestens 156 Tote sind zu beklagen. Der Wiederaufbau wird Jahre dauern. Doch das sind keine Bilder und Berichte über eine Tragödie, die ja ein unabwendbares Schicksal wäre. Vielmehr ist das Juli-Hochwasser 2021 der Beweis des totalen Versagens der deutschen Sicherheits- und Katastropheninfrastruktur.

Der Strom fällt aus. Das Wasser steigt. Das Auto schwimmt weg Am Dienstag, dem 13. Juli 2021, um 15 Uhr erklärt der Meteorologe Felix Dietzsch die „bevorstehende Unwettersituation“ auf dem Youtube-Kanal des Deutschen Wetterdienstes. Zu erwarten seien schwere Gewitter sowie andauernder Starkregen. Große Bereiche Nordrhein-Westfalens bis Rheinland-Pfalz seien bereits gewarnt: „Denn bis Donnerstag morgen kommen hier teils enorme Regenmengen zusammen.“

Zur selben Zeit spaziert Thorsten Rech (39) mit einem Freund durch Brüssel. Er hat zwei Tage Urlaub. Rech ist Gastronom, er betreibt in der 900-Seelen-Gemeinde Mayschoß im Landkreis Ahrweiler in Rheinland-Pfalz das Restaurant „Bahnsteig 1“ im alten Bahnhof. In nur 33 Stunden wird es Teile des über hundert Jahre alten Gebäudes nicht mehr geben.

„Wir fuhren am Mittwoch zurück, durch schwersten Regen“, sagt er der JUNGEN FREIHEIT. „Da kamen schon während der Fahrt Anrufe von zu Hause, daß es so schwer werden könnte wie 2016. Da hatten wir ein Hochwasser von 3,71 Meter in Mayschoß.“ Rech erreicht mittags seinen Gasthof. Das steigende Wasser sieht er schon von weitem. „Wir haben dann erst einmal den Weinkeller ausgeräumt und die Flaschen und Kisten ins Restaurant getragen.“ Das Wasser steigt weiter. Rech telefoniert mit der Feuerwehr, bittet um Sandsäcke für die Kellerfenster. Der gegenüber dem Lokal liegende gemeindeeigene Platz für die Camper ist schon am Vormittag von der Feuerwehr evakuiert worden. Zwei Camper treffen die Retter nicht an, erst Rech begegnet ihnen, als er nach Hause kommt. „Die wollten nicht weg“, sagt Rech. „Die Feuerwehr sagte mir, daß ein Hochwasser bis zu vier Metern erwartet würde. Da dachte ich, okay, das ist safe, da kann nichts passieren.“

Doch das Wasser steigt weiter. „Die Camper fuhren ihren Wagen ans Haus, und dann haben wir gemeinsam noch mein Auto ausgeladen. Dann sagte ich zu denen, kommt hoch in meine Wohnung, die Tür ist offen.“ Rech macht aus dem oberen Stockwerk ein paar Fotos. Dann hört er Stimmen. „Die beiden Camper riefen: Laß uns rein! Ich sagte, sie müßten ums Haus herum, damit sie in die Wohnung können, denn nur hier ist ein Treppenhaus. Doch die wollten nicht durchs ansteigende Wasser waten, sie wollten unbedingt ins Restaurant. Ich warf ihnen den Schlüssel herunter, und dann saßen sie im Anbau.“

Der Strom fällt aus. Das Wasser steigt weiter. Sirenen heulen. Rech geht in die zweite Etage des alten Bahnhofs. Aus einem Fenster sieht er, wie sein Auto wegschwimmt. Dann legt er sich auf das Bett in seiner Ferienwohnung. Er kann kein Auge zutun. Gurgelnde Geräusche. Dann dumpfes Aufschlagen. „Bäume krachten gegen die Hauswände.“ Und immer wieder ein ächzendes metallisches Knirschen. „Das waren die losgerissenen Gastanks. Ich dachte nur, wenn es da einmal funkt – dann war es das.“

Einige Kilometer weiter in Bad Neuenahr ahnen die Menschen in der Innenstadt noch nichts Schlimmes. „Wir wurden erst durch die Feuerwehr gewarnt. Die gingen so um 23 Uhr durch die Straßen“, sagt Maryana Marqus (22) gegenüber der JF. „Sie sagten, daß wir die Autos wegfahren sollten, die Türen schließen, und alle sollten wir nach Hause gehen. Um zwölf Uhr nachts oder halb eins kam dann das Wasser. Das ging so bis vier Uhr morgens.“ Ein Brummifahrer, der direkt an der Ahr wohnt: „Sirenen habe ich nicht gehört.“

80 Kilometer nördlich von Bad Neuenahr liegt Wuppertal. Die Stadt mit der berühmten Schwebebahn hat 355.000 Einwohner. Auch hier regnet es seit Tagen. Um 0.03 Uhr verbreitet die Stadt auf ihrem Twitter-Account in Großbuchstaben die Warnmeldung „Die Talsperre läuft über!“.

Plötzlich beginnen Sirenen zu heulen. Gemeint ist die Wuppertalsperre. Stadtteile werden evakuiert. Was wäre normaler, als das Fernsehgerät anzuschalten und nach Alarmmeldungen zu schauen? Doch der öffentlich-rechtliche WDR zeigt eine Olympia­dokumentation. Im Gegensatz dazu das kleine Radio Wuppertal vom Privatsenderverbund Radio NRW. Bis tief in die Nacht informiert es live mit einer Sondersendung seine Zuhörer. „Der WDR war beinahe ein Totalausfall. Beinahe, weil man auf der Website einen einsamen Text-Ticker aktualisiert“, schreibt in einem vielbeachteten Kommentar später Thomas Lückerath, Chefredakteur des Medienmagazins DWDL. Die Überschrift des Artikels lautet: „Unterlassene Hilfeleistung: WDR läßt den Westen im Stich“. Erst Tage später wird der WDR Versäumnisse zugeben. Da ist es zu spät.

Denn am Donnerstag vergangener Woche, nach Sonnenaufgang, wird das ganze Ausmaß der Katastrophe bekannt: Teile Nordrhein-Westfalens, von Rheinland-Pfalz, Belgien, Holland sind betroffen. Der äußerste Westen Deutschlands allerdings am stärksten. Es sind die Menschen vor Ort, die sofort zupacken. Was bleibt ihnen auch anderes übrig?

Privatleute packen kräftig an, das Volk organisiert sich selbst

Als Thorsten Rech am Donnerstag um 5.53 Uhr aus dem zweiten Stock seines Hauses aus dem Fenster schaut, sieht er kein liebliches Ahrtal, sondern eine Wasserwüste. Keine Straßen, Brücken, das gesamte Landschaftsbild ist ein anderes. Dort, wo immer Häuser standen, klaffen jetzt Löcher. „Drei Häuser waren bei uns im Dorf weg, sechs Stück in Rech. Als ich dann versuchte, um mein Haus zu gehen, sah ich, daß ein Teil der Restaurantwand weg war. Die beiden Camper waren nicht mehr da.“ Im Landkreis Ahrweiler hat die teils neun Meter hohe Sturzflut eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Nichts geht mehr: kein Strom, kein Handyempfang, keine Wasserversorgung. Die gesamte Infrastruktur ist kaputt.

In der Gemeinde Schuld sind sechs Häuser zusammengebrochen. In Sinzig sterben zwölf Patienten einer Behinderteneinrichtung in den Fluten. Bundesstraßen und Autobahnen sind durch Unterspülungen oder Überflutungen nicht passierbar. Mindestens sieben Eisenbahnbrücken sind zerstört, Gemeinden so von der Außenwelt abgeschnitten. In NRW sind 25 Städte und Kreise vom Hochwasser betroffen. Die Steinbachtalsperre droht einzustürzen. Im Kreis Euskirchen ist es besonders kritisch. Die A1 und A 61 sind im Bereich der Erft gesperrt. In Erftstadt untergräbt das Wasser die Kiesgrube im Ortsteil Blessem. Der entstehende Krater reißt immer mehr Häuser in die Tiefe.

Die Hilfeleistungen der Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet sind enorm. Es bedarf keiner politischen Aufrufe dazu. Zum Beispiel schwingen sich 200 Bauern der Protestbewegung „Land schafft Verbindung“ auf ihre Traktoren und fahren ins Katastrophengebiet. Auch Handwerker, Spediteure, Tierretter mit Pferdetransportern und Spezialbooten. Aus Grimma in Sachsen sind 14 Helfer seit Donnerstag vergangener Woche in Bad Neuenahr-Ahrweiler.

Laut Innenministerium in NRW kämpfen am 16. Juli 19.000 nichtpolizeiliche Einsatzkräfte, also THW, Feuerwehr und Hilfsorganisationen, dort gegen das Hochwasser an, darüber hinaus 650 nord-rhein-westfälische Polizisten, Beamte aus anderen Landespolizeien und Soldaten der Bundeswehr.
Am Donnerstag fahren auch 61 Einsatzkräfte der Hamburger Wasserschutzpolizei, darunter Spezialisten wie Taucher, mit 15 Booten Richtung Westen in das Katastrophengebiet in NRW. Aber schon am Sonnabend sind sie wieder zurück in der Hansestadt. „Wir stellen fest, daß wir entlassen worden sind“, sagt der Pressesprecher der Polizei zur JF. Auf die Frage, warum sie wieder zurückgefahren sind, sagt der Beamte sibyllinisch: „Da spiele ich den Ball zurück nach Nordrhein-Westfalen, rufen Sie bitte dort an.“

Die JUNGE FREIHEIT hat beide Länder-Innenministerien um Presseauskünfte gebeten: „Immer häufiger ist zu hören, daß die Koordination der Einsatzkräfte im Hochwassergebiet nicht funktioniere.“ Auf die konkrete Frage an das Innenministerium in NRW, warum man die Hamburger Polizeispezialisten wieder entlassen habe, kam folgende Antwort: „Auf unserem Twitter-Kanal (@IM_NRW) können Sie das heutige Statement des Ministers zum Thema ‘Unwetter/Katastrophenschutz’ ansehen. Hieraus dürften die Antworten auf Ihre Fragen hervorgehen. Außerdem finden Sie weitere Antworten unter folgendem Link: https://www.im.nrw/starkregen-nrw.“ Nein, Antworten finden wir nicht. Wieder ein Anruf. „Dazu können wir nichts sagen. Aber es kann sein, daß niemand etwas dazu sagen kann“, meint Leonie Möllmann von der Pressestelle. Ist es ein Wunder, daß bei solchen ministerialen Fehlleistungen private Helfer unerläßlich sind?

Gastronom Thorsten Rech wurde am Donnerstag durch einen Hubschrauber evakuiert. Auch er engagiert sich jetzt. „Ich lege meine Hände nicht in den Schoß. Ich bin Burschenschafter. Wir haben in Bonn, auf unserem Haus, eine Einsatzzentrale eingerichtet. Von dort organisieren wir Hilfsaktionen, besorgen Putztrupps, Autos, Dieselaggregate und sammeln Geld. Über 30.000 Euro haben wir. Das geht dann in Wiederaufbauprojekte.“

Und die Politik? Sie feixt wie NRW-Ministerpräsident und Kanzlerkandidat Armin Laschet, wenn sie sich unbeobachtet fühlt.



Fotos: Ein junger Mann in Bundeswehr-T-Shirt sitzt in Bad Neuenahr am Ufer der Ahr: Kein liebliches Tal mehr, sondern eine Wasserwüste; Gastwirt Thorsten Rech vor seinem Restaurant im alten Bahnhof von Mayschoß (Rheinland-Pfalz): Die über die Ufer getretene Ahr hat binnen Minuten alles mit sich gerissen. Die Idylle des Weintals ist hinweggespült.; Maryana Marqus (l.) und Dilan Gökce in Bad Neuenahr: Tüchtige Helferinnen