© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Ein Flashmob – keine Revolution
Kuba: Die landesweiten Proteste am 11. Juli waren isoliert voneinander und die breite Masse blieb zu Hause
Alessandra Garcia

Mit Unruhen kennt Ramiro Valdés Menéndez sich aus. Auch mit bewaffneten Aufständen und der geheimdienstlichen Infiltrierung der Bevölkerung. Er weiß, was für ein mühseliges Geschäft eine Revolution sein kann, insbesonders wenn diese sich im 63. Jahr ihres Sieges in ihrer größten Krise befindet. Er weiß, daß ein paar Hundert Krakeeler für die kommunistische Regierung in Havanna keine Gefahr sind, nicht einmal ein paar Tausend. Die landesweiten Proteste am 11. Juli waren isoliert voneinander und die breiten Massen zu Hause geblieben.

Aber an jenem 11. Juli zieht sich der 89jährige  Superminister des Kabinetts von Präsident Miguel Díaz-Canel seine olivgrüne Uniform an und stellt sich in Santiago de Cuba den Protestierenden. Mögen in Havanna, Matanzas oder anderen Orten Steine fliegen, an einem der engsten Kampfgefährten der Gebrüder Castro und Che Guevaras, auf dessen Bluse der Stern eines Helden der Republik Kubas blinkt, wird sich niemand vergreifen.

Zweitgrößte Nahrungskrise seit dem „Sieg der Revolution“ 1959

Auslöser der landesweiten Proteste war eine spontane Demonstration in der Provinzstadt San Antonio de los Baños. Anhaltende Stromabschaltungen, seit Monaten fehlende Nahrungsmittel, Impfstoffe und eine wachsende Zahl an Corona-Infizierten hatten die Bewohner trotz Ausgangssperren auf die Straßen getrieben, wo sie lautstark ihren Unmut verkündeten: Nieder mit dem Präsidenten! Nieder mit den MLC-Geschäften! Mit letzteren sind die Läden gemeint, in denen die Regierung nach Abschaffung von konvertiblem Peso und US-Dollar Lebensmittel an jene verkauft, die Devisenüberweisungen aus dem Ausland erhalten.

Was in dem südwestlich von Havanna gelegenen Städtchen geschah, wurde per sozialen Medien weltweit übertragen und gelangte zurück auf die Insel. Wie bei einem Flashmob fanden sich überall Menschen zu Protesten zusammen, die meisten zwischen 25 und 35 Jahre alt, wie die Polizei später analysierte.

Landesweite Proteste sind für die sozialistische Insel ein Novum. Plötzlich begehrt das junge Kuba gegen die Bevormundung durch das Regime auf: Vaterland und Leben statt Vaterland oder Tod. Aber es handelt sich noch um keinen Volksaufstand, sondern es geht um Symbole. Wer beherrscht die Straßen, wer demonstriert auf den Plätzen der Revolution, in Havanna vor dem Capitolio? „Wir rufen alle Revolutionäre auf, auf die Straße zu gehen, um die Revolution an allen Orten zu verteidigen“, verlangt Präsident Díaz-Canel: „Die Straßen gehören den Revolutionären.“ Da marschieren diese schon, meterlange Hölzer in der Hand, in Zivil, aber in militärischer Formation.

Videoschnipsel aus allen Teilen des Landes zeigen steinewerfende Demonstranten, knüppelnde Polizisten, umgekippte Autos, geplünderte Lebensmittelgeschäfte. Falschmeldungen heizen die Situation an. So soll die Stadt Camagüey bereits von den Kommunisten befreit worden sein. Im Örtchen La Guinera wird versucht, eine Polizeistation zu stürmen, weil Gerüchte die baldige Ankunft US-amerikanischer Schiffe melden.

All das entspreche den Geboten der unkonventionellen Kriegsführung aus dem „bekannten Handbuch für einen Putsch“, sagt Díaz-Canel. Die Kampagne in den sozialen Netzwerken gegen die Revolution habe zugenommen, weswegen „revolutionäre Wachsamkeit und Handeln“ vonnöten sei. Gleichzeitig räumt der Präsident ein, daß es Probleme gebe, „die wir aktuell nicht lösen können“.

Gemeint ist die zweitgrößte Nahrungskrise seit dem mit dem „Sieg der Revolution“ 1959 einsetzenden permanenten Niedergang der Wirtschaft. Ihre Ursachen liegen in der seit Jahrzehnten vernachlässigten Landwirtschaft, in den 243 Sanktionsmaßnahmen, die die USA unter Präsident Donald Trump gegen Kuba durchsetzen und denen sich nicht nur ganz Südamerika mit Venezuela, sondern auch die Schweiz gebeugt haben, sowie im völligen Zusammenbruch des Tourismus durch die Corona-Pandemie. Seitdem bekommt Kuba kein Öl mehr, um Strom zu erzeugen.

„Wir brauchen mehr als zwei Milliarden Dollar, um Lebensmittel einzukaufen“, sagt Díaz-Canel. Aber auch das reiche nicht, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Denn es müssen Betriebsmittel für die Landwirtschaft, Maschinen, Ersatzteile, Düngemittel und Herbizide im Ausland gekauft werden. Der Staat habe den „ganzen politischen Willen zum Dialog“, jeder könne sich beteiligen, um Lösungswege zu zeigen. Innerhalb der Revolution sei alles möglich, außerhalb ihrer nichts.

Um die Unruhen auf einen Tag zu beschränken, genügten der massive Einsatz von uniformierter und ziviler Polizei sowie die Abschaltung des Internets. Durch die Anti-Corona-Maßnahmen sind zudem friedliche Massendemonstrationen ausgeschlossen. Es gelten streng überwachte Ausgangssperren. Noch ist der Hunger nicht so groß, als daß sich ganze Dörfer auf den Weg in die Machtzentren begeben. Noch schaffen es Veteranen wie Comandante Menéndez, Protestierende zu „überzeugen“.