© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Auf ins „warme und gemütliche“ Europa
Litauen: Mit Stacheldraht versucht sich das Land gegen die Zunahme von Migranten, die Weißrußland an die Grenze bringt, zu schützen
Paul Leonhard

Der Weg von Afrika oder dem Nahen Osten nach Mitteleuropa führt neuerdings über Litauen. Nicht einmal 1.800 an der Grenze zu Weißrußland in diesem Jahr festgenommene Migranten, davon allein mehr als 800 in der ersten Juliwoche, haben in dem kleinen Land im Baltikum eine Krise ausgelöst. Regierung und Parlament sehen die verfassungsmäßige Ordnung und den öffentlichen Frieden gefährdet, rufen nach der Nato, insbesondere den USA. Denn die Litauer wissen, daß sie diesen wachsenden Zustrom irregulärer Migration der Konfrontationspolitik der EU gegenüber dem benachbarten Weißrußland zu verdanken haben.

Während sich die Regierung in Vilnius als Anwalt der weißrussischen Opposition fühlt, deren Vertretern sie teilweise sogar diplomatischen Status verlieh, wofür sie von der EU viel Beifall erhielt, schlägt der brüskierte weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko jetzt nach türkischem oder marokkanischem Vorbild zurück. Er hilft Wirtschaftsflüchtlingen aus den von den USA destabilisierten Ländern des Nahen Ostens, aber auch aus Mali, Senegal, Guinea, Gambia und der Republik Kongo, dahin zu gelangen, wohin sie gern möchten: in die EU. Weißrußland werde keine „Haltestelle“ für Migranten sein und niemanden aufhalten, der in das „aufgeklärte, warme und gemütliche Eu-ropa“ wolle, so Lukaschenko als Reaktion auf die EU-Sanktionen.

EU-Kommission: Migranten haben das Recht auf Asylanträge

Litauen reagiert auf den Ansturm mit Stacheldrahtsperren entlang der 380 Kilometer langen Landgrenze, die seit 2007 als durchgehend befestigt gilt, und der 299 Kilometer, die durch Gewässer verlaufen. Und mit Notstandsgesetzen. Im Parlament wird von einem „von litauenfeindlichen Ländern“ organisierten „Zustrom illegaler Migranten aus Drittstaaten“ gesprochen, von einer „hybriden Aggression“ aus Weißrußland, die Litauen destabilisieren soll. Im sonst zerstrittenen Abgeordnetenhaus haben Regierungsparteien und Opposition – 56 Ja-Stimmen, 24 Enthaltungen, zwei Gegenstimmen – ein ganzes Paket drastischer Maßnahmen verabschiedet, darunter den Einsatz der Armee an der Grenze zu Weißrußland. Abschreckung ist das Hauptziel. Deswegen sollen Migranten, die auf litauischem Gebiet aufgegriffen werden, sofort inhaftiert werden. Außer Frauen mit Kindern, Schwangeren, Behinderten und Personen unter 16 Jahren sollen alle als „mögliche aktive Teilnehmer des anhaltenden Hybridangriffs“ behandelt und umgehend in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden. Zeige auch das keine Wirkung, seien Konsultationen auf Nato-Ebene „über die Bedrohung der territorialen Integrität, politischen Unabhängigkeit oder Sicherheit des Landes“ vorgesehen, so das Parlament.

Als „besorgniserregend“ schätzt Fabrice Leggeri, Exekutivdirektor der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die Situation an der litauisch-weißrussischen Grenze ein. Er verspricht zusätzliche Grenzschutzbeamte, Streifenwagen und spezialisierte Beamte, die Informationen über kriminelle Netzwerke sammeln sollen. Auch werde Litauen im August zehn Millionen Euro erhalten, um den Zustrom der bisher 1.716 Migranten zu bewältigen, so die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson. „Wir helfen Litauen auch dabei, Menschen zu schützen und Asylanträge zu bearbeiten. Die Menschen haben das Recht, Asyl zu beantragen, und müssen mit Würde und Respekt behandelt werden“, betonte  die Schwedin.

Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis beschwört dagegen bereits „riesige Migrationsströme“ aus Afghanistan, die „über Litauen oder Lettland, Estland und sogar Finnland und andere Länder, mit denen Rußland eine Grenze hat, die europäische Grenze erreichen“ könnten.