© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Frankfurter Lockerungen
Geldpolitik: Die EZB strebt „mittelfristig eine Inflationsrate von zwei Prozent“ an
Dirk Meyer

Preisstabilität ist wichtig. Oder genauer: Preisniveaustabilität. Denn Preise müssen frei schwanken können, um Knappheiten oder zu hohe Lagerbestände anzuzeigen. Erscheinen die frisch gepflückten Erdbeeren aus Deutschland zu teuer, kann der Kunde darauf verzichten, nur eine kleine Menge kaufen oder zur billigeren Alternative aus Spanien oder eventuell zu Kirschen oder Johannisbeeren greifen. Ist die Erdbeerlieferung mittags schon ausverkauft, wird der Produzent den Preis anheben und im nächsten Jahr die Anbaufläche vielleicht ausweiten.

Insgesamt sollten sich die Preisausschläge von Benzin über Bier und Schuhe bis hin zu Würstchen und Zement aber ausgleichen, so daß die Inflation moderat bleibt. Deshalb strebt die EZB in Frankfurt seit 2003 – sehr erfolgreich – als Inflationsziel die Marke „unter, aber nahe zwei Prozent“ an. Ein stabiler Geldwert – ein Euro behält im Zeitverlauf seine Kaufkraft – ist nämlich zentrale Voraussetzung einer funktionierenden Marktwirtschaft. Nur so entfällt ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor beim Abschluß langfristiger Verträge (Mieten, Löhne, Abos, Kreditverträge), in die sonst ein Inflationszuschlag mit einkalkuliert werden müßte.

Arbeitnehmer mit langfristigen Tarifverträgen, Rentner und Sparer verlieren bei Inflation real an Kaufkraft. Man spricht deshalb auch von einer „Inflationssteuer“. Der Staat und andere Schuldner profitieren. Wichtig ist der „Warenkorb“, auf dessen Basis die Inflation berechnet wird. Stimmt die „gefühlte“ Inflation mit der statistisch ausgewiesenen nicht überein, so könnte dies auch an einem falsch gefüllten Warenkorb liegen. Deshalb hat die EZB nun beschlossen, künftig nicht nur die Mieten, sondern auch die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum mit aufzunehmen.

Aber warum strebt die EZB keine Null-Inflation an, denn laut Vertrag über die Arbeitsweise der EU ist das „vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken ..., die Preisstabilität zu gewährleisten“ (Art. 127 Abs. 1 AEUV)? Erstens wird dies mit einem Sicherheitspuffer gegenüber einer Deflation – mit im Durchschnitt sinkenden Preisen – begründet. Bei entsprechenden Erwartungen könnte eine Abwärtsspirale aus sinkenden Preisen und Ausgabenzurückhaltung in eine Wirtschaftskrise wie 1931 führen. Zwei Prozent sind der Airbag gegen Deflation. Zweitens können schlecht laufende Branchenkonjunkturen Preis- und Lohnabsenkungen notwendig machen. Bei zwei Prozent Inflation entspricht eine Tarif-Nullrunde einer Reallohnsenkung um zwei Prozent. Bei Null-Inflation müßten die Nominallöhne gesenkt werden – was sehr viel schwieriger durchsetzbar ist. Drittens sind die Eurostaaten strukturell und konjunkturell ganz unterschiedlich aufgestellt, was zu Abweichungen der nationalen Inflationsraten führt. So wies Portugal im Juni 2021 minus 0,6 Prozent Inflation aus. In Deutschland waren es laut Eurostat-Berechnung 2,1 Prozent, in Estland sogar 3,7 Prozent (JF 28/21).

Es drohen Gefahren für die Preisstabilität in der Eurozone

Die mediterranen Tourismus-Länder können ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit bei durchschnittlich zwei Prozent Preissteigerung in der Eurozone wiedergewinnen, ohne zwangsläufig einen deflationären Prozeß durchlaufen zu müssen. Schließlich entstehen Meßfehler, wenn geänderte Konsumgewohnheiten und Qualitätsverbesserungen nur mit Zeitverzug berücksichtigt werden. Beide überzeichnen die amtlich ermittelte Inflationsrate. Angenommen das Nachfolgemodell eines Kompaktwagens kostet statt 20.000 nun 22.000 Euro. Der Preis wäre um zehn Prozent gestiegen. Unberücksichtigt bleiben die Ausstattungsverbesserungen, ein niedriger Verbrauch oder zusätzliche Sicherheitsassistenten schon in der Standardausführung, die nicht als Inflation zu werten sind.

Eigentlich hätte man erwarten können, daß die trotz extrem expansiver Geldpolitik vergeblichen Bemühungen zur Erreichung der Zwei-Prozent-Marke zum Nachdenken Anlaß geben, das EZB-Inflationsziel nach unten hin anzupassen – also beispielsweise auf ein Prozent. Nach einem 18monatigen Diskussionsprozeß hat sich der EZB-Rat jedoch in seiner außerordentlichen Juli-Sitzung auf den schlichten Zielwert „mittelfristig zwei Prozent“ geeinigt: „Der EZB-Rat versteht dieses Ziel als ein symmetrisches Ziel. Symmetrie bedeutet in diesem Zusammenhang, daß der EZB-Rat negative Abweichungen von diesem Zielwert als ebenso unerwünscht betrachtet wie positive.“

Demgegenüber legte die bisherige Formulierung „unter, aber nahe zwei Prozent“ ein asymmetrisches Verständnis des Inflationsziels nahe – mehr war unerwünscht. Diese Auslegung mag in Zeiten einer anziehenden Inflation störend sein. Es dürfte auch dem Einfluß von Bundesbankpräsident Jens Weidmann zu verdanken sein, daß Weitergehendes verhindert wurde. Denn zur Diskussion stand auch ein Inflationsziel von „im mittelfristigen Durchschnitt zwei Prozent“, wie es die US-Notenbank Fed seit etwa einem Jahr anstrebt.

In diesem Fall ist die Geldpolitik nicht mehr nur zukunftsgerichtet, sondern muß auf Unterschreitungen der Preissteigerung in der Vergangenheit reagieren. Da die Inflationsrate der Eurozone von 2010 bis 2019 im Schnitt bei 1,3 Prozent lag, müßte die Zielrate für den Zeitraum 2020 bis 2029 danach bei 2,7 Prozent liegen. Für Deutschland könnte dies eine noch darüber hinausgehende Erhöhung bedeuten. Die infolge der Niedrigzinsphase angeheizten Immobilien- und Aktienpreise würden weiter inflationieren. Es besteht dann die Gefahr, daß sich die Inflationserwartungen vom eigentlichen Ziel zwei Prozent entfernen.

Man spricht dann von einer „Entankerung“ der Inflationserwartung – siehe USA. Entsprechende „Einpreisungen“ in Kreditverträge und Tarifverträge würden eine Preisspirale in Gang setzen, die nur schwer zu durchbrechen wäre. Die Glaubwürdigkeit der EZB stände auf dem Spiel, sie könnte die Kontrolle über die geldpolitische Steuerungsfähigkeit verlieren. Bereits heute ist sie infolge ihrer immensen (Staats-)Anleiheankäufe in ihrem autonomen Handeln eingeschränkt, denn eine Rückführung der Zentralbankgeldmenge über Verkäufe beinhaltet Gefahren für die Finanzstabilität der mediterranen Eurostaaten und des Bankensektors. Sprich: Die ursprünglich versprochene Unabhängigkeit der EZB ist bereits jetzt nur eine Periode in ihrer 23jährigen Geschichte.




Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.