© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Irgendwie scheint die Luft raus zu sein
Kurden: Gefangen zwischen dem Dilemma des Vertrags von Sèvres und der inneren Zerrissenheit
Ferhad Ibrahim Seyder

Die erste Dekade des 21. Jahrhunderts zeigte für Kurden einige positive Signale, die mit dem Wandel des Status quo enden könnten. Die irakischen Kurden erhielten mit der Resolution 688 des Sicherheitsrates der Uno, die vor genau 20 Jahren verabschiedet wurde, eine Schutzzone, die der Beginn einer weiteren poitiven Entwicklung im Irak war und ist. In der Türkei wurde die „kurdische Realität“ von den politischen Kräften mit Ausnahmen der ultranationalistischen MHP hingenommen. Dies öffnete den Weg für die „Gespräche“ zwischen den Vertretern Ankaras und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Bei den Kurden, die auch im Iran zehn Prozent der Bevölkerung stellen, breitete sich, trotz des positiven Wandels das geopolitische Dilemma, das ihre Freiheitsbestrebungen im 20. Jahrhundert konterkarierte, Unmut aus. Die Ursache dieses Dilemmas war und ist die Gründung der neuen Staaten Irak und Syrien durch Großbritannien und Frankreich. Durch die Anerkennung der türkischen Grenzen im Vertrag von Sèvre (1920) wurden allein 50 Prozent der Kurden Untertanen der neuen Türkei.

 Das geopolitische Dilemma für die Kurden ergab sich aus dem Umstand, daß bei den neuen Eliten in den genannten Staaten die ethnisch-nationale Identität der Kurden und ihre Selbständigkeitsbestrebungen als eine Gefahr für den Status quo für die einzelnen Staaten und für die Region betrachtet wurden. Dennoch verstärkten sich mit der Etablierung der kurdischen politischen Organisationen nach 1945 die Verbindungen zwischen den verstreuten Kurden, aber vor allem dank der rasanten Entwicklung der Kommunikationsmittel im gesamten ehemaligen osmanischen Kurdistan.

Das Resultat sind grenzüberschreitende Bewegungen jeglicher Art. Die Vernetzung der kurdischen politischen Bewegungen manifestierte sich aber auch in Gegensätzen, die die Zerspitterung der kurdischen Nationalbewegung förderten. Lediglich Organisationen wie die PKK und die Kurdische Demokratische Partei (KDP) sind in allen drei Teilen des osmanischen Kurdistan, aber auch in der europäischen Diaspora aktiv. Die sozialen Medien sind zu einer wichtigen Arena eines Volkes ohne Staat geworden.

Vor diesem Hintergrund wird der Versuch unternommen, die Bewegungen und ihre Vernetzungen zu skizzieren. Eine andere Dimension ist die Positionierung der Kurdischen Bewegungen und Parteien bezüglich der Eigenstaatlichkeit. Dabei fällt vor allem auf, anders als die Staaten der Region in diesem Kontext propagieren, daß ein Teil der kurdischen Kräfte, etwa die PKK, mittlerweile die Gründung eines eigenen Nationalstaates ablehnt. Andere Bewegungen klammern sich an die postkolonialen Staaten, etwa den Irak, auch wenn er als gescheiterter Staat bewertet werden kann. Hier sind kulturelle, politische und soziale Faktoren entscheidend.



Türkei

Bekanntester kurdischer Akteur ist die 1978 von Abdullah Öcalan gegründete Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Beeinflußt durch die türkische Stadtguerilla, versucht sie Kurdistan  zu befreien und eine sozialistische Ordnung zu etablieren. Aus der Tradition des Stalinismus übernahm die Partei auch den Alleinvertretungsanspruch. Keine andere Partei ist nach dem Diktum der PKK legitimiert, im Namen des kurdischen Volkes zu agieren. In den 1990er Jahren, aber vor allem nach seiner Verhaftung revidierte Öcalan die Ideologie und Politik seiner Partei. Hierzu gehört die Abkehr von dem Ziel der Gründung eines kurdischen Staates. Die unter dem Einfluß der PKK entstandenen Parteien DEP, HEP und HDP sind legale Arme der Partei, die derzeit versuchen, mit den Themen Basisdemokratie, Ökologie und Gender neue Klientele zu gewinnen. Geographisch dehnte sich die Bewegung aus. Das irakische Kurdistan war das Ziel der PKK. Ende der 1980er Jahren faßte sie Fuß in der Grenzregion zur Türkei und zum Iran. In den Kandil-Bergen liegt ihre Guerillazentrale. Die PKK lehnt die dortige DPK-PUK-Autorität ab. Seit Ende 2011 agiert die PYD, ein Ableger der PKK, an der Südgrenze der Türkei. Durch Gewalt und Kooption gelang der PKK, die Konkurrenten politisch zu marginalisieren. Als stärkste Fraktion gilt hier die Kurdistan Demokrat Partisi-Türkiye. Sie steht der DPK (Irak) nahe. Die Kurdistan Özgürlük Partisi betrachtet sich dagegen als eine nationale Alternative zur PKK. Die kurdischen Islamisten werden durch die Dava Partisi (abgekürzt Hüda Par) vertreten. Deren Vorläuferorganisation war die kurdische Hisbollah. Die Hüda-Par wurde für viele Attentate in den kurdischen Städten verantwortlich gemacht. Säkularisten, aber auch der PKK nahestehenden Personen waren das Ziel der Attentate. Die Partei strebt eine islamische Ordnung an und macht kein Geheimnis daraus, daß sie vor allem die PKK als Hauptfeind ansieht.




Syrien

Als der arabische Frühling ausbrach, hielten sich die zahlreichen kurdisch-syrischen Parteien zunächst bedeckt. Im Herbst 2011 gründeten dann 14 kurdische Parteien und Bewegungen, darunter die Kurdische Einheitspartei in Syrien (Yekîtî) und die Demokratische Partei Kurdistans (PDK‑S) den Kurdischen Nationalrat (KNR). Der Rat sollte Kontakte mit der syrischen Opposition herstellen und – im allgemeinen – als Vertretung der syrischen Kurden fungieren. Der KNR bekam jedoch eine starke Konkurrenz durch die der PKK nahestehende Partei der demokratischen Einheit (PYD). Diese weigerte sich, dem KNR beizutreten. Stattdessen gründete sie im Verlauf des Jahres 2012 den Zusammenschluß Tev-Dem, dessen Hauptaufgabe es ist, den Zusammenhalt und die sozialen Bindungen der Kurden in der avisierten „Autonomen Föderation Nordsyrien“ (Rojava-Projekt) während der syrischen Krise aufrechtzuerhalten. Bedeutend war der Beitritt von Guerillaeinheiten der PKK aus dem irakischen Kurdistan. Sie übernahmen in Einvernehmen mit Syriens  Regierung die Städte in den kurdischen Siedlungsgebieten an der Südgrenze zur Türkei und wurden dadurch De-facto–Macht. Versuche (2012–2020), die beiden Gruppen zur Kooperation zu bewegen, sind bislang gescheitert. Zum einen, weil sich die PYD als die legitime Macht versteht. Zum anderen, weil der KNR anders als die PYD mit ihren Einheiten der Volksverteidigung über keine Streitkräfte verfügt.




Irak

Die Demokratische Partei Kurdistans (DPK)  war die erste moderne kurdische Partei, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Als Fernziel verpflichtete sie sich, Kurdistan zu befreien und zu einigen. Nahziel war die Selbstverwaltung der kurdischen Gebiete. Unter Führung Mustafa Barzanis begann sie den bewaffneten Kampf. Nach der Niederlage der Kurden im Krieg von 1974/75 gegen die Regierung in Bagdad verließ der spätere Präsident des Irak Jalal Talabani die DPK und gründete die Patriotische Union Kurdistans (PUK). Nach dem Sturz Saddam Husseins gelang es DPK und PUK, vereint ihre Stellung auszubauen. Nach der Eroberung von mehr als einem Drittel des Irak durch den Islamischen Staat gab Präsident Barzani bekannt, ein Referendum über den Verbleib der kurdischen Region im irakischen Staatsverband durchzuführen. Einen Monat nach dem Referendum im Oktober 2017 eroberten schiitische Milizen, unterstützt durch iranische Militärberater und Mitwirkung der irakischen Armee, die Erdölstadt Kirkuk und beendeten den DPK-PUK-Traum der Unabhängigkeit. Im Gegensatz zur DPK strebt die 1993 gegründete Islamische Union Kurdistans eindeutig die Etablierung einer islamischen Nation an. Die Kurdische Gemeinschaft von Scheich Ali Bapir orientiert sich, auch wenn sie sunnitisch ist, eher in Richtung Iran und lehnt die Selbständigkeit der Kurden ab, während die 2018 gegründete „Bewegung Neue Generation“ eher eine Verfechterin der irakischen Identität ist.




Ferhad Ibrahim Seyder: leitete bis 2020 das Fachgebiet Kurdische Studien an der Universität Erfurt und ist nun emeritierter Professor für Politik- und Sozialwissenschaften.


Kurdische Newroz-Feier am 20. März 2021 in Akre (Irak): Obwohl sich 2017 90 Prozent der Kurden im Nordirak in einem Referendum für ihre Unabhängigkeit aussprachen, ist es nie dazu gekommen