© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Im Bannkreis des Geldes
Nach der nationalen soll der Deutschunterricht nun auch europäische Identität auflösen
Dirk Glaser

In der Endphase der Bonner Republik hielten die politische Klasse und ihr Medientroß die deutsche Wiedervereinigung nur noch für eine „Lebenslüge“ (Willy Brandt). Dazu passend gab die Kultusministerkonferenz der Länder 1987 eine „Handreichung“ für den Deutschunterricht heraus, die zu Lasten der Vermittlung nationaler Geschichte und Kultur anregen sollte, „Europabildung in der Schule“ zu fördern. Es galt, so lautete die anstrengendes Lernen verachtende didaktische Zauberformel der „Kompetenz-Kompetenz“, „Europakompetenz“ durch „interkulturelle Kompetenz, Partizipations- und Gestaltungskompetenz sowie Mehrsprachenkompetenz zu stärken“. Solche „Kompetenzen“ hätten dazu beizutragen, „das Bewußtsein einer europäischen Identität als Ergänzung zu den lokalen, regionalen und nationalen Identitäten zu schaffen, indem Beziehungen und Gemeinsamkeiten zwischen der deutschen Sprache und Literatur und dem Umfeld europäischer Sprachen und Literaturen aufgezeigt“ würden.

Ausgeblendete „Gewaltexzesse des europäischen Kolonialismus“

Obwohl im vorigen Jahr so aktualisiert, daß Europabildung die hergebrachten, 1987 noch nicht zur Disposition gestellten, derzeit aber schon arg abgeschliffenen Identitäten nicht mehr „ergänzt“ sondern ersetzt, verschwinden Überbleibsel nationaler Zugehörigkeit Hochschuldidaktikern immer noch nicht rasch genug aus Schülerhirnen. Und selbst eine „homogene, übernationale Europäische Identität“ wird von ihnen mittlerweile als Gefahr beschworen, wie das Themenheft „Europa“ der Zeitschrift Der Deutschunterricht (2/2021) dokumentiert.

Denn heute drohe das wesentlich durch literarische und mediale Formen, mittels „gemeinsamer ästhetischer Imaginationen“ erzeugte kulturelle Selbstbild Europas die kollektiven Selbstentwürfe nationaler Identitätsbildung naiv nachzuahmen. Ohne zu bemerken, wie die an der Universität Luxemburg „ethische und ästhetische Bildung“ lehrende Assistenzprofessorin Jennifer Pavlik und der Mediendidaktiker Ivo Theele (Europa-Universität Flensburg) warnen, daß die „destruktive Kraft nationaler Identitätspolitik“, ihre „Exklusionsmechanismen“ und die fatalen „homogenisierenden Denkungsarten“ im größeren Rahmen wiederkehren.

Davor bewahren nur Strategien, die die Schüler dafür „sensibilisieren“, sowohl die von „Populisten“ zunehmend revitalisierten „nationalen“, wie auch die supranationalen „europäischen Rhetoriken und Symbole“ mitsamt den aus dem „weißen Erinnerungsraum“ ausgeblendeten „Gewaltexzessen des europäischen Kolonialismus“ durchschauen und destruieren zu können.

Statt „selbstgerechtem Stolz“ sei also nunmehr „Selbstkritik“ nebst einer hochprozentigen Dosis  Schuldbewußtsein das Lernziel der „Europabildung“. Wie gut, jubelt die mit einer Arbeit über das „Phantasma Nation“ („‘Zigeuner’ und Juden als Grenzfiguren des ‘Deutschen’“, 2014) habilitierte Literaturwissenschaftlerin Iulia-Karin Patrut (Flensburg), daß sich inzwischen auch Historiker vom „Paradigma des ‘Nationalen’“ verabschiedet haben, weil es halt nur Abschottung erzeuge. Lobenswert sei es daher, wenn sie künftig Geschichte der Menschheit schreiben, ausgehend von den „umfassenden europäischen und transkontinentalen Migrationsbewegungen der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, insbesondere auch des Kolonialismus und seiner Spätfolgen“.

Das neue Selbstverständnis, nicht mehr des europäischen, sondern des sich in Europa lediglich aufhaltenden oder mit leichtem Gepäck durchziehenden Menschen könne mithin allein ein nomadisches, immerfort mit „kritisch-reflexiver Selbsthinterfragung“ beschäftigtes sein. Folglich sollten Schüler lernen, sich vom „Begriff der Identität“ abzulösen. Dazu rege sie ein Unterricht an, der die „Logik der Grenzziehungen“ durchbreche, indem er sie mit einer Literatur konfrontiere, die in an den Rändern des Kontinents, vor allem in den multikulturellen Übergangszonen Mittel- und Osteuropas entstand, wo sich etwa Deutsches und Jüdisches begegnete. In einen kulturell derart fruchtbaren Übergangsraum führe bereits der Mythos der den Namen des Kontinents erkläre. Zeus raubte Europa, „eine grenzüberschreitende Phönizierin aus Afrika“, genauer aus Tunesien, von wo sie den Griechen Kulturtechniken wie die Schrift und die Navigationskunst mitgebracht habe. Bereicherung aus Afrika, wie Patrut das Mantra des UN-Migrationspaktes von 2018 nachbetet, wonach Migration „immer ein Teil der Menschheitsgeschichte“ und stets eine „Quelle des Wohlstands und der nachhaltigen Entwicklung“ gewesen sei.

Pech nur für die in der antiken Mythologie und Geographie nicht so sattelfesten, von den Märchen der Diversen und Postkolonialen betörten Frau Patrut, daß das „Purpurland“ nicht in Afrika lag, sondern im heutigen Libanon, wo das Handels- und Seefahrervolk der Phönizier unter vielem anderen auch die Kunst des Schreibens von den alten Hochkulturen des Vorderen Orients überliefert bekam. Ähnlich wie sie den Mythos der Europa mit der Brechstange traktiert, um ihn in ihr „Narrativ“ von den Peripherien zu quetschen, in denen die „größten Potentiale für Evolution und Innovation“ stecken, legt Patrut sich die Literaturgeschichte  von Homer bis Kafka neu zurecht, um überall „Übergängiges“ und „Mischungen“ als den gemeinsamen Nenner aller beachtenswerten europäischen Dichtung zu entdecken.

Ideologisches Bekenntnis wichtiger als wissenschaftliche Erkenntnis

Zu den „Exkludierten und Marginalisierten“ der „kleinen Literaturen, die Europa eigentlich ausmachen“, zählt sie auch Franz Kafka, der für sie aufgrund seiner „Poetik“ (sie meint Poesie) „einer der bedeutendsten Europäer des Jahrhunderts ist“. Gerade Kafka, ein Protagonist der immerhin im zentraleuropäischen Prag und nicht an irgendwelchen albanischen oder lappländischen Rändern gewachsenen deutsch-jüdischen Symbiose, ist für sie der ideale Repräsentant einer Literatur, die sich „im Entliehenen, im Transfer verortet“.

Und abermals Pech einer Germanistin, der ideologisches Bekenntnis wichtiger ist als wissenschaftliche Erkenntnis. Denn Kafka war schon für seinen Zeitgenossen Bert Brecht nicht deshalb ein „prophetischer Schriftsteller“, weil er unablässig über deutsch-jüdische Identitätsprobleme brütete, sondern weil seine Werke mit seltener Intensität die ungeheuren Erschütterungen der alteuropäischen Ordnung thematisierten, jenen rasanten Prozeß der Entfremdung und Verdinglichung in einer vom Kapitalismus umgestalteten Welt.

Insoweit bestätigt Patruts realitätsblinde Begeisterung für den literarischen Abbau des Nationalen  nur ein von ihrem Kollegen Werner Wintersteiner seiner Studie über „Europa-Essays im Deutschunterricht“ vorangestelltes Motto des Sozialphilosophen Oskar Negt: „Mit Verblüffung muß man heute feststellen, wieviel intellektuelle Energie auf Europadiskurse gelenkt wird, die selbst in ihrer radikalsten und kritischsten Position vollkommen dem Bannkreis des Geldes und der politischen Institutionen verhaftet bleiben.“

 www.friedrich-verlag.de


Foto: Max Beckmann, Der Raub der Europa, 1933: Das Aquarell entstand als Reaktion auf die Entlassung des Künstlers aus seiner Lehrtätigkeit an der Frankfurter Städelschule durch die Nationalsozialisten. Vier Jahre später emigrierte Beckmann in die Niederlande