© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Zeitschriftenkritik: Tichys Einblick
Deutsche Zustände
Thorsten Thaler

Die Abrechnung mit der im September zu Ende gehenden Regierungsära Merkel und insbesondere ihrer Bilanz der letzten vier Jahre könnte kaum schärfer ausfallen: „Realistisch betrachtet“, schreibt Alexander Wendt in der aktuellen Ausgabe der Monatszeitschrift Tichys Einlick (08/2021), „waren die Jahre seit 2017 für die Bundesrepublik eine Periode des beschleunigten Abstiegs: Im internationalen Mathe- und Naturwissenschafts-Ranking TIMSS landeten deutsche Schüler, 2007 noch auf Platz 12, im Jahr 2020 gerade mal auf Rang 25, deutlich hinter Rußland und selbst der Türkei. In der Mobilfunkabdeckung rangiert die Bundesrepublik hinter Albanien, bei der Steuerbelastung und dem Strompreis dafür an der EU-Spitze. Deutsche Ämter hantieren auch 2021 noch mit Fax und Formblatt.“ Der Merkelismus sei „Gedröhne aus Weltbelehrung und Illusionstheater“. Wendt: „Nie wirkte der regierunsgamtliche Dilettantismus so übermächtig – und gleichzeitig die Selbszufriedenheit eines Justemilieus, dessen Mitglieder sich wechselseitig und notfalls auch selbst beklatschen.“
Martin Wagener, Professor für Politikwissenschaft im Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin, wirft in seinem Beitrag „Die neu konstruierte Nation“ der Bundesregierung vor, aus der gewachsenen deutschen Kulturnation eine multikulturelle Willensnation machen zu wollen. Dies lasse sich vor allem durch einen sprachlichen Vergleich verdeutlichen. So seien in der alten Bundesrepublik Begriffe wie „Nation“, „Volk“ und „Vaterland“ noch sehr gebräuchlich und mit einem Identitätsverständnis verbunden gewesen. Wagener zitiert Kurt Schumacher, Konrad Adenauer, selbst Willy Brandt und Richard von Weizsäcker, auch Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Heute hingegen schwinden diese Begriffe aus dem Bewußtsein beziehungsweise werden sie von Politik und Medien mit multikulturellen Inhalten versehen.
Weitere lesenswerte Beiträge befassen sich unter anderem mit der EU-Souveränitätsaneignung (Dietrich Murswiek: „Brüssel will die totale Unterwerfung“) und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (Klaus-Peter Willsch: „Unbemerkt entsteht der Eurostaat“).
Im Kulturteil reflektiert Josef Kraus über den Untertanengeist im Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Der ehemalige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes plädiert für Mündigkeit, Aufgeklärtheit und Kritikfähigkeit im Sinne Kants. „Ich setze darauf, daß sich der Souverän seine Rechte zurückholt. Und ich setze darauf, daß sich der deutsche Michel seines Namenspatrons, des Erzengels Michael, des Drachenbezwingers, besinnt.“

Kontakt: Tichys Einblick, Bayernstraße 71-73, 80335 München, Tel.: 089 / 272 64-0. Das Einzelheft kostet 9,80 Euro, ein Jahresabo 105,60 Euro.
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