© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Sommerlektüren: Ich packe meinen Koffer und nehme mit 1. die Autobiographie des Journalisten und ehemaligen Spiegel-Chefs Stefan Aust, „Zeitreise“, erschienen im Piper-Verlag;
2. das Buch „Notre-Dame. Die Seele Frankreichs“ von Agnès Poirier (Insel); 3. Rainer Hackels kundigen Essay „Arno Breker. Triumph und Tabu“ (Arnshaugk); 4. „Das Zeitalter der Inseln. Von untergehenden Paradiesen und künstlichen Archipelen“ des britischen Sozialgeographen Alastair Bonnett (C.H. Beck) sowie 5. Mark Twains Reisebriefe „Unterwegs mit den Arglosen. Die Originalreportagen aus Europa und dem Heiligen Land“ (Mare-Verlag), erstmals in ihrer ursprünglichen Fassung ungekürzt und unzensiert ins Deutsche übertragen.

Wie kaum ein zweiter Reiseschriftsteller vermag Mark Twain seine Eindrücke von Land und Leuten zu schildern.

Neugier weckt vor allem der Band mit den rund 50 Reisereportagen, die der US-Schriftsteller Mark Twain im Sommer 1867 auf einer Kreuzfahrt mit dem Passagierdampfer „Quaker City“ nach Europa über Konstantinopel bis ins Heilige Land für die Zeitung Daily Alta California verfaßte. Zu den Stationen gehörten unter anderem Gibraltar, Tanger, Versailles und Paris, Genua, Mailand, Venedig und Florenz, Pompeji und der Vesuv, Damaskus, Palästina, Nazareth und Jerusalem. Wie kaum ein zweiter Reiseautor vermag Mark Twain seine Eindrücke von Land und Leuten zu schildern – radikal subjektiv, mal polemisch, mal schroff, dann wieder liebevoll-boshaft, komisch, respektlos, politisch unkorrekt. Als er auf der zu den Azoren gehörenden Insel Faial ankommt, notiert er: „Die Bewohner pflügen mit einem Holzpflug wie einst Vater Abraham. Sie stecken nur ein Getreidekorn in einen Erdhaufen und häufeln eigentlich  gar nicht. Sie nehmen sich drei Tage in der Woche frei und verbummeln die übrige Zeit. Dreschmaschinen verachten sie, wie auch alle anderen gottlosen Erfindungen gemäß der wahren jesuitischen Weisheit, nach welcher Unwissenheit ein Segen ist und Fortschritt Aufruhr bedeutet.“ In Paris erlebt er zufällig, wie Kaiser Napoleon III. und der zu Besuch weilende Sultan des Osmanischen Reiches, Abdülaziz, an seiner Reisegruppe vorüberziehen. Twain: „Das war meine Chance, Weltruhm zu erlangen, und ich, mit meinem üblichen vermaledeiten Pech, hatte meinen Revolver zu Hause vergessen.“

Das mit der Schöpfung ist ja schön und gut. Aber Stechmücken hätte es nun wirklich nicht gebraucht.

Ein JF-Autor schickte mir dieser Tage ein Gedicht von Inge Müller zu („selbstverständlich nicht auf Corona bezogen“), der zweiten Ehefrau des Dramatikers Heiner Müller, die sich 1966, an Depressionen leidend, das Leben nahm. Es trägt den Titel „Masken“ und geht so: „Ich weigre mich Masken zu tragen/ Mich suche ich/ Ich will nicht, daß ihr mich nachäfft/ Ich suche unser Gesicht/ Nackt und veränderlich./ Nicht Tränen nicht alle Wetter/ Waschen die Larven uns ab/ Kein Feuer kein Gott wir selber/ Legen uns ins Grab.“ Mein Deutschlehrer auf dem Gymnasium hätte nun in klassischer Studienratsrhetorik gefragt: Was will uns die Dichterin damit sagen?