© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Kolumne
GegenAufklärung
Karlheinz Weissmann

Weitsichtig: „Fallen alle partikularen Gegenbegriffe zum Universalium ‘Mensch’ fort, so wird das Wort ‘Mensch’ kein Eigenschaftswort mehr darstellen, also auf keine höhere Qualität mehr hindeuten, sondern es wird sich in ein Substantiv zAur Bezeichnung einer bestimmten Tierart verwandeln. Die Menschen werden alle Menschen heißen, genauso wie die Löwen Löwen und die Mäuse Mäuse genannt werden, ohne weitere nationale oder ideologische Differenzierung.“ (Panajotis Kondylis, 1992)
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Noch einmal zum Thema Frauen und Schach. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (Ausgabe vom 11. Juli) berichtete Anna Prizkau von einem Gespräch mit der Großmeisterin Elisabeth Pähtz. Es ging um die Unterschiede der Geschlechter und deren Auswirkungen auf das „Königliche Spiel“. Bemerkenswert ist am Verlauf des Interviews vor allem, daß Pähtz biologische Faktoren für ausschlaggebend hält, vielleicht den Testosteronspiegel, in jedem Fall eine männliche Disposition, die befähigt, sich bedingungslos einer Sache zu verschreiben. Das sei schon ein Grund dafür, warum es deutlich weniger Schachspielerinnen als Schachspieler gebe. Aber aus dieser Tatsache könne man keineswegs ableiten, warum Männer die Leistungsspitze des Schachs dominieren. Denn auch im Bridge – das von wesentlich mehr Frauen als Männern gespielt werde – haben Männer die ersten einundsechzig Positionen der Weltrangliste inne. Das alles behagte Prizkau nicht, und sie litt erkennbar, weil eine Frau an etwas glaubt, woran ihrer Meinung nach „die meisten Frauen nicht glauben – an biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern“.
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Die Bemerkung Tino Chrupallas über die alliierte „Umerziehung“ hat in den tonangebenden Kreisen erwartbare Empörung ausgelöst. Tatsächlich wird heute alles beschwiegen, was mit der „reeducation“, „rééducation“, „perwospitanije“ nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatte. Was entweder auf Ahnungslosigkeit oder darauf zurückzuführen ist, daß jeder Hinweis dieser Art daran erinnert, daß die Deutschen höchst undemokratisch zu Demokraten gemacht und einer mehr oder weniger subtilen, mehr oder weniger andauernden Form geistiger Beeinflussung unterworfen wurden. Lange vorbei, daß ein Konrad Adenauer sich rühmte, gegen das „Propagandamonopol“ der Sieger vorgegangen zu sein oder ein Alfred Dregger erklärte, es müsse „endlich Schluß sein mit der uns von den Siegermächten aufgezwungenen Geschichtsbetrachtung“.
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Zum Dante-Jahr: Der Verlag Blossom Books hat sich entschlossen, die Person Mohammeds aus einer Übersetzung der „Göttlichen Komödie“ ins Niederländische zu entfernen. Die Darstellung des Dichters, der zufolge der Prophet als Schismatiker und Unruhestifter in die Hölle verbannt wurde, könnte – so das Unternehmen – heutige Leser „verletzen“.
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Die Ermordung des haitianischen Präsidenten droht das Land erneut ins Chaos zu stürzen. Tatsächlich gab es in der Geschichte des Inselstaates kaum eine Phase politischer oder sozialer Stabilität. Das ist um so interessanter, als es sich bei Haiti um eines der frühesten praktischen Beispiele von „Entkolonialisierung“ handelt. Denn schon 1804 erklärte die Inselrepublik ihre Unabhängigkeit von Frankreich. Man schaffte die Sklaverei ab und verteilte das Land der – massakrierten oder geflohenen – weißen Grundbesitzer an die farbigen Bewohner. Die Verheißung von Gleichheit und Brüderlichkeit der ehemals Unterdrückten sollte sich aber nicht erfüllen. Vielmehr erscheinen die folgenden zweihundert Jahre als einzige Abfolge von Rebellionen, Putschen und sozialen Krisen, die die Masse der Bevölkerung zu einem Leben in Elend verdammen. Genutzt wurde die Situation regelmäßig von Kleptokraten und Männern, die unter Cäsarenwahn litten. Die Führungsschicht Haitis empfindet offenbar keine Verpflichtung gegenüber ihren Landsleuten, sondern betrachtet sich als Aristokratie. Ein Phänomen, das ganz ähnlich an der Entwicklung der beiden ältesten „postkolonialen“ Staaten Afrikas abzulesen ist. Es handelt sich um die Projekte weißer Philanthropen, die glaubten, es wäre das beste, wenn die verschleppten Schwarzen in ihre Heimat zurückkehren würden, wo man ihnen helfen wollte, ein Gemeinwesen nach westlichem Vorbild aufzubauen. Gemeint sind Sierra Leone, das mit Schwarzen besiedelt wurde, die im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg der britischen Krone treu geblieben waren, und Liberia, ein Projekt von amerikanischen Sklavereigegnern, die für Freigekaufte ein Territorium. Sierra Leone wie Liberia liegen an der westafrikanischen Küste. Sierra Leone war zwar bis 1951 Teil des Empire, die Einwohner besaßen aber ein hohes Maß an Selbstverwaltung. Liberia ist schon seit 1847 ein souveräner Staat. Anders als erwartet, gebärdeten sich die Neuankömmlinge hier wie dort gegenüber den „Indigenen“ als Herren, zogen alle Macht an sich und bildeten durch Endogamie eine mehr oder weniger abgeschlossene Kaste. Man kann in diesen Überschichtungen weitere Beispiele für das „eherne Gesetz der Oligarchisierung“ (Robert Michels) sehen, aber man kann sie auch als Menetekel betrachten, im Hinblick auf die multikulturelle Zukunft und jede Verheißung „intersektionaler Solidarität“.



Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 6. August in der JF-Ausgabe 32/21.