© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Zur Ruhe im Reich der Kunst finden
Richard Wagner: Vor siebzig Jahren fanden die ersten Bayreuther Festspiele nach dem Zweiten Weltkrieg statt
Eberhard Straub

Richard Wagner war ein europäisches Phänomen. Insofern lag es nahe, daß die drei Hohen Kommissare der westlichen Besatzungsmächte an der Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele nach dem Kriege, am 29. Juli 1951, teilnahmen. Ihre Anwesenheit bedeutete keine Demonstration ihrer politischen Macht. Mit ihr bezeugten sie der deutschen Kultur ihren Respekt und einem ihrer bemerkenswertesten Künstler, der viele Jahre in Frankreich, der Schweiz und Italien verbracht hatte und mit ganz Europa wegen seiner vielen Reisen und seiner umfassenden Bildung vertraut war.

Vor allem der französische Kommissar André François-Poncet, der unter deutschen Wissenschaftlern aufgrund seiner Doktorbeit über Goethes „Wahlverwandtschaften“ sehr geschätzt wurde, reihte sich ganz unbefangen in die Schar der Franzosen ein, die ununterbrochen seit 1876, dem ersten Festspiel, voller Hoffnungen nach Bayreuth aufbrachen, um dort vom Geist einer neuen Kunst aus den herkömmlichen Konventionen befreit zu werden. Franzosen eilten bald wieder wie früher nach Bayreuth, diesem Symbol deutsch-französischer Begegnung und Ergänzung.

Bundespräsident Theodor Heuss verweigerte sich Bayreuth und Wagner. Er bestätigte damit, ein ängstlicher Deutscher aus der Provinz zu sein, der mit Richard Wagner nicht in Verbindung gebracht werden wollte, nur weil Adolf Hitler in Bayreuth aus seiner Sympathie für die Festspiele und dessen Meister keinen Hehl und deren Überleben als freie Einrichtung möglich gemacht hatte. Nirgendwo auf der Welt – auch nicht während des Krieges –  konnte die besondere Neigung Hitlers zu Wagner davon abhalten, sich mit dessen Werk weiterhin auseinanderzusetzen. Daran änderte sich auch nach 1945 nichts. Die Wiedereröffnung der Festspiele gehört in einen weltweiten Zusammenhang der intensiven Wagner-Pflege, bei der es Bayreuth gelang, noch einmal die Führung zu übernehmen. Richard Wagner ist erst damals ein unumstrittener Repräsentant „klassischer Musik“ und damit „ein Klassiker“ geworden.

Eine Gesinnungsgemeinschaft über Generationen hinweg

Die Devise aus den Meistersingern: „Hier gilt‘s der Kunst“, an die das Bayreuther Publikum auf Tafeln erinnert wurde, um sich ganz und gar auf das Werk einzulassen, wurde in Mailand oder London und New York in gleichem Maße beherzigt. Die erste Inszenierung Wieland Wagners im „neuen Bayreuth“ – Parsifal – überraschte und überwältigte die „Wagnerianer“ mit ihrer Konzentration auf das Drama und dem Verzicht auf alles, was von ihm ablenken könnte. Denn: „Was brauche ich einen Baum, wenn ich die Varnay habe?“ Diese singende Schauspielerin füllte den Bühnenraum, aber das ließ sich auch von allen übrigen sagen – ob Martha Mödl, Hans Hotter, Wolfgang Windgassen, Josef Greindl, Gottlob Frick oder Ramón Vinay, Leonie Rysanek und Ira Malaniuk. Manches war erst einmal ungewohnt. Doch der Ernst Wieland Wagners und der Dirigenten Joseph Keilberth, Eugen Jochum oder Hans Knappertsbusch beruhigte Zweifel und Unmut im ingesamt nicht minder ernsten Publikum.

Nach Bayreuth kam man nicht, um sich in paritätischen Kreisen an schönen Stimmen, schönen Weisen zu erfreuen und anschließend in froher Runde stilvoll-gemütlich beisammen zu sein. Der Zweck der Reise war, fern vom Lärm der aufgeregten Zeit, Richard Wagner zu begegnen und eine Woche oder ein paar Tage in seiner Welt zu weilen in Gemeinschaft anderer, die ebenfalls nur dies im Sinne hatten.

Diese Absicht sorgte für eine geistige Exklusivität, aber nicht für eine gesellschaftliche. Wirtschafts- und Bildungsbürger trafen sich während der Festspiele. Sie kannten Wagners Werke gründlich und schätzten jeden nicht wegen Rang und Titel, sondern weil er als Bürger – im Sinne des Meistersingers Veit Pogner – bestätigte, nicht an Schacher und Geld zu denken, sondern das zu berherzigen, was schön und gut und was die Kunst wert macht. Diese Gesinnungsgemeinschaft schuf eine Gleichheit unter den Generationen, die sich im festlichen Gewand ausdrückte: die Herren alle im gleichen Smoking und die Damen im kleinen oder großen „Schwarzen“. Und wer als Student über keinen Smoking verfügte, besaß doch einen dunklen Anzug.

Während der langen Pausen bei einfacher fränkischer Kost und fränkischem Bier oder später im gutbürgerlichen Gasthaus – auch das schuf eine Homogeneität – hörten die Jungen den Alten bis Uralten zu, die aus fernen Zeiten berichteten, als das große Fest mit ähnlicher Begeisterung begangen worden war. Diese Brücke, gebildet aus Menschenherzen und feierlichem Enthusiasmus, vermittelte über die Gräben der Generationen hinweg und ermöglichte Traditionen, die sich gerade im scheinbaren Traditionsbruch bewährten. Es ging ja vor allem darum, deutlich und klar Richard Wagners Ideen und Absichten auf der Bühne im dramatischen Geschehen zu vergegenwärtigen.

Diese Bemühung setzte Treue voraus, eine von Richard Wagner immer wieder beschworene Tugend, die auch Treue gegenüber seinen Werken meinte. Wer Unbeachtetes betonte oder allgemein Bekanntes auf überraschende Art deutete, bewies ja seine Treue in der Verantwortung auch gegenüber scheinbar unauffälligen Details, die plötzlich eine ungemeine Bedeutung gewinnen konnten. Nach geraumer Zeit wurde das verstanden, und im tosenden Beifall über dem mächtigen Fundament allgemeinen Getrampels versichterten sich die Begeisterten ihrer Übereinstimmung mit dem Meister und untereinander. 

Richard Wagner mißtraute der Großstadt und den etablierten Opernhäusern mit ihrem unvermeidlichen Schlendrian und ihrer Verpflichtung, mit Knalleffekten und Sensationen gelangweilten Genußmenschen voller Zerstreuungsgier einige Abwechslungen zu verschaffen. Bayreuth, die Stadt und das Festspiel, abseits von den aufdringlichen Tagesgeräuschen und der verderblichen Luft des Kulturbetriebes, sollte jedem, der sich auf das Wagnis des Festspiels einließ, dazu verhelfen, sich zumindest auf kurze Zeit aus der hektischen Welt entfernen und zur Ruhe im Reich der Kunst zu finden.

Wagner wehrte sich gegen Aktualisierungen seiner Werke

Richard Wagner mahnte immerzu, wie so mancher klassische Grieche und Römer, sich nicht von der Macht der Aktualitäten täuschen zu lassen und den Tag im Tag zu vertun. Die Kunst, und gerade seine Musik und sein Gesamtkunstwerk, wollten nicht erziehen und Rat für den nächsten Tag geben, sondern es jedem Aufmerksamen ermöglichen, innerlich frei und selbstbewußt unter dem Eindruck dramatischer Urbilder und Mythen zu werden. Deshalb kamen die meisten nach Bayreuth, nicht um geblendet, sondern im besten Sinne erleuchtet und aufgeklärt zu werden.

Bayreuth war darum nie im mondänen Sinn ein gesellschaftliches Ereignis. Die Gäste wohnten in relativ bescheidenen Pensionen oder Hotels. Sogenannte Prominente – die Begum, Politiker oder Franz Beckenbauer und der leidenschaftliche Wagnerianer Loriot – wurden nicht weiter beachtet von den übrigen, die zu Wagners Grab gingen, im Schloßgarten auf des Meisters Spuren wandelten oder sich in Gesprächen auf den Beginn der Aufführung am frühen Nachmittag vorbereiteten. Es war und blieb – bei relativ bescheidenen Preisen für die Eintrittskarten – ein Festspiel für eine Minderheit von Kennern und damit eine Herausforderung für jene Schwarmgeister, die Kultur allen ohne jede Voraussetzung zugänglich machen wollten. Solchen Absichten konnte Bayreuth zögernd widerstehen, fügte sich aber allmählich den Forderungen nach Politisierung, Historisierung und vor allem nach „neuen Bildern“. Die von einer phantastischen Neubegier besessene Postmoderne konnte sich ein Drama nur noch als eine Abfolge von unerwarteten Bildern vorstellen, zumal insgesamt das Verständnis für Wagners Werke aus ganz anderen Zeiten nachließ0.

Richard Wagner wehrte sich vehement gegen Versuche, mit Aktualisierungen seine Werke dem schweifenden Zeitgeist plausibel zu machen. Im plakativen und ganz banalen Sinn wollte er gerade nicht politisch wirken, denn es geht in seinen Dramen um Verrat und Treue, um Neid und Mut, um Haß und Liebe, also um die elementaren menschlichen Kräfte. Heutige Orientierungshelfer können damit nur etwas anfangen, sofern sich diese großen Leidenschaften mit ihren Theorien politischer Bewußtseinsbildung verbinden lassen. Denn nur über diesen Umweg gelinge es in der jeweils allerneuesten Neuzeit, Altes noch interessant zu machen. Das politisch-soziologische Rotwelsch, abstrakt und blutleer, bedarf unweigerlich knalliger und praller Bilder, die das Drama in möglichst beliebige Assoziationsräume versetzen und dort Leben als dauernde Bewegung und Unrast vortäuschen.

Es sind Sensationen, Effekte ohne Wirkung, mit denen indessen die Zuschauer in Wagners Werken staunend ein Bild ihrer wirren Gegenwart erkennen sollen, das bald vergessen wird und den Wunsch nach weiteren Einfällen weckt, die als geistreicher Spaß prächtig unterhalten. Bayreuth wurde endlich ein Teil des Spaßgesellschaft, bunt in den Kleidern, laut und authentisch im Umgang, was das Publikum anbelangt, und auf der Bühne mit antifaschistischem Schick und routinierter Wagner-Kritik eine Stätte monumentaler Geschmack- und Stillosigkeit. Das Festspiel ist der Ästhetik des Häßlichen verfallen wie die Gegenwart. Diese traut der Schönheit nicht, von der Wagner, der klassische Humanist, erwartete, daß sie vom Glanz der Wahrheit erfüllt, zur Freiheit und zum Selbstbewußtsein führt. Freiheit braucht Schönheit, Ordnung, Proportion und Harmonie.  Davon ist nicht mehr die Rede. Wie die alte Freiheit ist in der „neuen Normalität“ auch Richard Wagner in Bayreuth  überflüssig geworden.

 www.bayreuther-festspiele.de

Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“, Szenenfoto aus dem 1. Akt einer Aufführung der Bayreuther Festspiele 1951