© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Im Zeitalter des Offendismus
Die beleidigte Leberwurst
Sebastian Moll

Wir leben im Zeitalter des Offendismus: Beleidigtsein ist die neue Wahrheit. Unsere öffentliche Debatte wird nicht mehr von Fakten und Logik, von Argumenten und Gegenargumenten bestimmt, sondern von der Frage, wer sich durch was beleidigt fühlen könnte. Daß diese Entwicklung eine ernsthafte Bedrohung für unser demokratisches Gemeinwesen darstellt, ist offensichtlich. Weniger offensichtlich scheint hingegen die Taktik zu sein, mit der diese alarmierende Entwicklung zu bekämpfen ist. Viele der Versuche scheitern bereits im Ansatz.

So ist in der Debatte um das Beleidigtsein oft der Hinweis zu hören, man solle „nicht alles so ernst nehmen“ oder „sich mal nicht so anstellen“. Diese Argumente zielen letztlich auf den Charakter der Betroffenen ab mit der Bitte, sich ein dickeres Fell zuzulegen. Als Ratschlag mag das gut gemeint sein. Tatsächlich kommt man mit einer Prise Humor und einem gesunden Selbstbewußtsein leichter durchs Leben. Aber einfordern kann man dies nicht. Sobald man anfängt, über den Schweregrad von Beleidigungen zu diskutieren, hat man bereits verloren. Wenn eine Beleidigung vorliegt, liegt sie vor, auch wenn sie dem, der sie ausgesprochen hat, harmlos erscheinen mag. Analog verhält es sich im Bereich der Körperverletzung. Eine Ohrfeige stellt eine Körperverletzung dar, ganz gleich, von wem gegen wen sie ausgeführt wird. Auch sie mag dem Handelnden harmlos erscheinen, aber als Rechtfertigung oder Entschuldigung dient ihm dieser Umstand nicht.

Anhand der Ohrfeige können wir auch gleich das zweite Argument entkräften, das oft bei diesem Thema zu hören ist, nämlich das „Früher war das ganz normal“-Argument. Ohrfeigen gehörten einst zum normalen Erziehungsstil, sowohl in der Familie als auch in der Schule. Heute tun sie es nicht mehr, und die Mehrheit der Bevölkerung dürfte diesen Wandel begrüßen. Deshalb ist der Verweis auf frühere Zeiten bei der ethischen Beurteilung einer Handlung wenig sinnvoll. Ebenso kann sich auch die Bedeutung oder Konnotation von Begriffen ändern, und es gibt nichts Grundsätzliches daran auszusetzen, wenn man auf Wörter verzichtet, die früher einmal als positiv oder neutral, heute aber als abwertend empfunden werden. In Mozarts „Zauberflöte“ singen Papageno und Pamina: „Ihr hoher Zweck zeigt deutlich an / Nichts Edlers sei, als Weib und Mann / Mann und Weib, und Weib und Mann / Reichen an die Gottheit an“, und auch in früheren Bibelübersetzungen heißt es, Gott schuf den Menschen „als Mann und Weib“. Mittlerweile jedoch hat der Begriff „Weib“ eine Abwertung erfahren, weshalb man ihn durch „Frau“ ersetzen sollte – ohne natürlich deshalb nachträglich Mozarts „Zauberflöte“ anzupassen!

Schließlich gibt es auch noch jene, die Beleidigungen generell nicht für einen beachtenswerten Tatbestand halten, da auch derartige Äußerungen von der Meinungsfreiheit gedeckt seien. Doch man kann nur davor warnen, den Teufel mit Beelzebub austreiben zu wollen. Der Schutz der persönlichen Ehre ist in unserem Rechtswesen verankert, und das ist gut so.

Will man den Offendismus wirksam bekämpfen, so muß man sich mit dem Wesen der Beleidigung befassen. Das erscheint zunächst müßig, da doch eigentlich jedem klar sein müßte, was eine Beleidigung ist. Eben dies ist aber nicht der Fall! Das merkt man tagtäglich an unseren Diskussionen um Begriffe wie „Zigeunersoße“ oder „Indianerhäuptling“. Hier findet eine unzulässige Gleichsetzung von Schimpfwörtern und Beleidigungen statt.

Ein Schimpfwort für sich allein genommen stellt noch keine Beleidigung dar. Es ist wie bei einem Paket. Ein Paket ist zunächst einmal nur ein Karton. Erst in dem Moment, in dem ich den Karton an jemanden adressiere, wird aus ihm ein Paket. So verhält es sich auch mit Schimpfwörtern. Das Schimpfwort braucht einen Adressaten, um eine Beleidigung zu werden. Eben dieser Adressat fehlt aber, wenn im Regal eine Dose mit Zigeunersoße steht. Um es an einem – zugegebenermaßen leicht absurden – Beispiel zu verdeutlichen: Der Begriff „Hornochse“ ist ohne Zweifel ein Schimpfwort. Nehmen wir nun einmal an, es gäbe eine Soße, die „Hornochsensoße“ heißen würde. Vermutlich wäre sie kein Verkaufsschlager, aber eine Beleidigung wäre sie auch nicht, nur weil sie öffentlich zum Verkauf angeboten wird.

Wenn wir beim Beispiel der Zigeunersoße bleiben, erkennen wir sogleich einen weiteren Aspekt, der bei der Entkräftung des Offendismus hilfreich sein kann: die Absicht. Ganz offensichtlich wurde die Zigeunersoße nicht so benannt, um irgendjemanden zu beleidigen. Vielmehr handelt es sich um eine beliebte Soße, die mit wohlwollender Anerkennung nach ihren (vermeintlichen) Urhebern benannt wurde. Ähnlich verhält es sich mit Johann Strauss’ berühmtem „Zigeunerbaron“ oder dem Volkslied „Lustig ist das Zigeunerleben“. Hier schwingt nichts Beleidigendes, sondern eher eine gewisse Romantik mit. Die Zigeuner stehen für Freiheit, Kreativität, Naturverbundenheit und eine überschäumende Lebenslust. Man könnte hier schlimmstenfalls von einem (allerdings positiv besetzten) Klischee sprechen, aber sicherlich nicht von einer Beleidigung.

Dasselbe gilt für die Indianer, als die sich Kinder so gerne verkleiden. Wenn sie dies tun, dann nicht, um sich über die amerikanischen Ureinwohner lustig zu machen, sondern weil sie in ihnen edle und tapfere Helden sehen. Daß der Ausdruck „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ nach medizinischen Kriterien unzutreffend ist, darf als bekannt vorausgesetzt werden.

Unser bürgerliches Gesetzbuch kennt in bezug auf die Absicht des Handelnden einen faszinierenden Paragraphen (133): „Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.“ Wenn dies im Zivilrecht gilt, warum nicht auch bei Fragen der persönlichen Ehre? Wenn ein Interpret das Lied „Lustig ist das Zigeunerleben“ anstimmt, so sollte, bevor man den Vorwurf der Beleidigung erhebt, erforscht werden, ob derjenige eine beleidigende Absicht verfolgt oder nicht – wobei das natürlich eine rhetorische Frage wäre. Aber auch in jenen Fällen, in denen es vielleicht weniger eindeutig ist: Warum gilt nicht das altbewährte Prinzip „audiatur et altera pars“ (Man höre auch die andere Seite)? Kommunikation geschieht bekanntlich zwischen Sender und Empfänger. Wenn nun der Empfänger etwas als beleidigend empfindet, so gilt dieses Urteil in unserer Gesellschaft bereits als endgültig. Dabei wäre es zwingend geboten, auch den Sender zu diesem Sachverhalt zu hören und im Zweifel zu seinen Gunsten („in dubio pro reo“) zu entscheiden.

Neben solchen Mißverständnissen, die leider bei menschlicher Kommunikation nicht zu vermeiden sind, hilft zuweilen aber auch ein wenig Aufklärung über das Wesen der deutschen Sprache. Diese Aufklärung ist vor allem im Bereich der sogenannten geschlechtergerechten Sprache notwendig, wo man einfach den Sinn des generischen Maskulinums nicht verstehen will. Immer wieder wird behauptet, durch den Gebrauch des generischen Maskulinums würde der Mann zur Norm für eine Personengruppe und Frauen somit unsichtbar gemacht.

Wie blödsinnig dieses Argument ist, läßt sich vielleicht am besten verdeutlichen, wenn wir uns einmal Beispiele des generischen Femininums anschauen. Wenn auf einem Schild steht „Bitte nicht die Enten füttern!“, wird dann ernsthaft jemand auf den Gedanken kommen, die Erpel seien damit nicht gemeint? In diesem Fall ist die Bezeichnung für das weibliche Tier (Ente) identisch mit der allgemeinen Bezeichnung, wie es etwa auch bei „Katze“ der Fall ist. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Verschwörung zu Lasten der Kater und Erpel, sondern lediglich um eine sprachliche Konvention, die mehr oder weniger zufällig entstanden ist.

Dann gibt es auch die besonders „fairen“ Fälle, etwa bei Pferden, wo es die neutrale Form (Pferd) sowie die männliche (Hengst) und weibliche (Stute) gibt. Innerhalb der menschlichen Gesellschaft stimmt in der deutschen Sprache die allgemeine Form nun einmal zumeist mit der männlichen überein, ohne daß damit eine frauenfeindliche Absicht verbunden wäre.

Zu guter Letzt kommen wir noch zu denjenigen, die sich bereits beleidigt fühlen, wenn jemand ihre Lebensweise nicht gutheißt. Hierzu kann und muß man in aller Deutlichkeit sagen: Jeder Mensch hat das Recht, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten, ohne von anderen daran gehindert zu werden. Aber niemand hat ein Recht darauf, daß der jeweilige Lebensentwurf von anderen befürwortet wird. Nur jemand, der über keinerlei Prinzipien verfügt, würde sämtliche Lebensweisen als ebenbürtig ansehen. Aber von solch einem Menschen bekäme man keine Akzeptanz, sondern lediglich Gleichgültigkeit.



Dr. Sebastian Moll, Jahrgang 1980, studierte in Deutschland, der Schweiz und England Evangelische Theologie. 2020 konvertierte der Publizist und Buchautor zum katholischen Glauben. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Verbote und ihre soziale Bedeutung („Ich darf nicht, also bin ich“, JF 21/20).