© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Saalschutz und Staatsstreich
Vor hundert Jahren formierte sich die SA: Nach dem gescheiterten Putsch vom 9. November 1923 wollte Hitler den NSDAP-Kampfverband erst einmal nur auf die Propaganda für die „Idee der Bewegung“ beschränken
Karlheinz Weißmann

Nachdem Hitler 1921 zum „Führer“ und das hieß faktisch zum „Parteidiktator“ der NSDAP aufgestiegen war, ging er daran, in Reden den Umriß seiner Weltanschauung zu entwickeln. Von zentraler Bedeutung waren dabei das „politische Genie“ und die kommende „Revolution“. An wen er im Hinblick auf das Genie dachte, unterlag keinem Zweifel, erstaunlich war aber bei einem Mann, der gemeinhin der Rechten zugeordnet wurde, die positive Wertung des Begriffs „Revolution“. Jedenfalls kritisierte Hitler am Umsturz von 1918 nicht, daß er revolutionär gewesen war, sondern daß er nicht revolutionär genug gewesen war. Auch daß die „Novemberrevolution“ nur von einer Minderheit getragen wurde, war aus seiner Sicht kein Mangel. Vielmehr sah er im Vorgehen der Linken ein Muster, das es nachzuahmen galt. Im Polizeibericht über eine seiner Ansprachen hieß es, Hitler habe geäußert, er und seine Parteigenossen „seien berufen, mit allen Mitteln — im Kampfe um die Not eines Volkes sei jedes Mittel recht — die bahnbrechende Minorität zu werden, um das Volk vom Schwindel des 8. bis 11. November zu befreien“.

SA war geprägt von Radikalität und ideologischer Geschlossenheit

Kern dieser „bahnbrechenden Minorität“ sollte die „Sturmabteilung“, kurz: SA, sein. Als deren offizielles Gründungsdatum gilt der 3. August 1921. Ihren Namen erhielt die Formation allerdings erst ein Vierteljahr später, nachdem sie sich in einer Saalschlacht gegen zahlenmäßig weit überlegene linke Angreifer behauptet hatte. Die bisher als Ordnertruppe eingesetzte „Turn- und Sportabteilung“ der NSDAP ging in der SA auf. Allerdings sollte die SA nicht mehr nur dem Veranstaltungsschutz dienen, sondern auch der aktiven Vorbereitung eines Staatsstreichs. Die militärische Leitung übernahm nicht Hitler selbst, sondern Hermann Ehrhardt, der Kommandeur der nach ihm benannten 2. Marinebrigade, die am Kapp-Putsch beteiligt gewesen und nach dessen Scheitern aufgelöst worden war. Ehrhardt konnte sich der Verhaftung entziehen, floh nach Bayern und suchte ein neues Betätigungsfeld. Es gelang ihm, einen Teil seiner Gefolgschaft zusammenzuhalten, in Tarnorganisationen unterzubringen und mit Deckung offizieller Stellen Kontakt zu den Wehrverbänden aufzubauen. Zu denen gehörte auch die Turn- und Sportabteilung beziehungsweise die SA, mit deren Aufbau Ehrhardt einen seiner Leute beauftragte: Ulrich Klintzsch, einen ehemaligen Leutnant zur See und Veteranen der Brigade.

Zu Beginn war die SA kaum mehr als ein klägliches Häuflein. Ein Vierteljahr nach ihrer Gründung umfaßte sie gerade 300 Mann. Von den „Vaterländischen Verbänden“, die in Bayern eine erhebliche Mitgliederzahl und entsprechenden Einfluß besaßen, unterschieden sie aber Radikalität und ideologische Geschlossenheit. Äußerlichkeiten, auf die die aus Veteranen und ehemaligen Freikorpsleute bestehenden Gruppen sonst Wert legten, spielten für sie eine untergeordnete Rolle. So fehlte der SA anfangs auch die Uniformierung. Die später bekannten „Braunhemden“ wurden erst nach 1924 als „Lettow-Hemd“ eingeführt, da man einen größeren Posten dieser vor 1918 für die afrikanische Schutztruppe vorgesehenen Kleidung einkaufen konnte. Die meisten SA-Männer trugen feldgraue Jacken und Skimützen. Die eigentliche Kennzeichnung bestand in den sogenannten „Kampfbinden“ und den roten „Sturmfahnen“ mit weißem Kreis und schwarzem Hakenkreuz, unter denen die NSDAP seit dem Sommer 1920 auftrat.
Trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche nährte die SA bei den Behörden früh die Sorge, daß sie als Putschtruppe gedacht sei. In einer Übergangsphase kam ihr aber vor allem die Aufgabe zu, Gegner einschüchtern oder auszuschalten und durch ihre geschlossene Formation imponierend und damit werbend zu wirken. Sichtbar wurde das beim „Deutschen Tag“, der am 14. und 15. Oktober 1922 in Coburg stattfand und als eine Art Heerschau aller „nationalen“ Gruppierungen betrachtet wurde. Hier konnte Hitler schon 800 „Sturmmänner“ aufmarschieren lassen. Was aber noch mehr Eindruck machte, war die Härte, mit der die SA gegen „rote“ Angreifer vorging – „Die Schlacht von Coburg“ – und das „Recht auf die Straße“ geltend machte.

Die wachsende Bedeutung der SA für die „Bewegung“ hob Hitler dadurch hervor, daß er einige Monate später, auf dem Parteitag, der vom 27. bis zum 28. Januar 1923 in München stattfand, vier Hundertschaften eigens entworfene Standarten verlieh. Zu dem Zeitpunkt erhielt außerdem die SA-Kompanie des sächsischen Zwickau eine „Sturmfahne“. Sonst existierte die SA außerhalb Bayerns aufgrund der rigiden Verbotspraxis der Behörden kaum. Nur im Süden entwickelte sie sich ungehindert. Ihre notorische Republikfeindlichkeit wurde dabei entweder in Kauf genommen oder stillschweigend geduldet. Auch dieses Verhalten der offiziellen Stellen bestärkte Hitler in seiner Überzeugung, daß seine „nationale Revolution“ in absehbarer Frist erfolgreich sein werde.

Für das weitere Vorgehen ging es Hitler vor allem um Handlungsfreiheit. Nachdem er im März 1923 den früheren Fliegeroffizier Hermann Göring zum neuen SA-Führer gemacht hatte, drängte er den Einfluß Ehrhardts systematisch zurück. Gleichzeitig wurde die SA organisatorisch von der Partei getrennt. Ihre Gliederung folgte nun militärischen Prinzipien, was zur Aufstellung von „Sturmregimentern“, „-bataillonen“ und „-hundertschaften“, später „-kompanien“ führte. Außerhalb Münchens gewann die SA vor allem in Niederbayern Rekruten, was in erster Linie der rastlosen Tätigkeit des Landshuter Apothekers Gregor Strasser zu verdanken war, der nicht nur den üblichen Zugriff auf – illegale oder fallweise von der Reichswehr geöffnete – Waffenlager hatte, sondern sogar eine kleine Artillerieabteilung aufbauen konnte.

Schon diese Schritte zeigten, daß es Hitler und der Spitze der NSDAP ernst war mit dem Plan eines Staatsstreichs. Die Voraussetzungen für ein Gelingen schienen 1923 günstiger denn je. Die Stabilisierung der Republik war flüchtig gewesen. Was Krieg und Zusammenbruch an Besitz und Vermögen übriggelassen hatten, fraß die Inflation. Die Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien löste eine Welle patriotischer Empörung aus, und in Mitteldeutschland machte die radikale und bewaffnete Linke mit militärischen Übungen und Anstalten, das nachzuholen, was sie 1918 und 1919 glaubte versäumt zu haben. Währenddessen suchte Hitler Verbündete und nahm Kontakt zum ehemaligen General Erich Ludendorff auf. Göring erhielt die Erlaubnis zur Zusammenarbeit der SA mit anderen nationalistischen Gruppierungen in der „Arbeitsgemeinschaft vaterländischer Kampfverbände“. Deren Initiator war der Hauptmann Ernst Röhm, ein NSDAP-Mitglied, was aber wichtiger war: eine der wichtigsten Figuren in der Grauzone zwischen Armee und nationalistischen Milizen.

Beim ersten Anlauf zur direkten Konfrontation mit der Linken wie der Staatsgewalt – am 1. Mai wurden auf dem Oberwiesenfeld 6.000 Bewaffnete der Arbeitsgemeinschaft zusammengezogen – zeigte sich allerdings die Zögerlichkeit der eher bürgerlichen Gruppierungen. Während des „Deutschen Tages“ in Nürnberg am 1. und 2. September 1923 bildete die SA deshalb mit den radikalsten Kräften der Arbeitsgemeinschaft – dem aus dem Freikorps gleichen Namens hervorgegangenen Bund Oberland und der von Röhm organisierten „Reichsflagge“ – einen „Deutschen Kampfbund“, dessen Führung mit der Vorbereitung eines Staatsstreichs begann.

Der Idee des Wehrverbandes wurde von Hitler eine Absage erteilt

Als es am 8. November 1923 tatsächlich zur „Nationalen Erhebung“ kam und dem Versuch, von München aus den „Marsch auf Berlin“ anzutreten, konnte der Kampfbund in München immerhin 4.000 Mann mobilisieren, von denen die Sturmabteilung ein gutes Drittel stellte. Es sollte sich allerdings zeigen, daß weder Zahl noch Qualität dieser Verbände ausreichten, um Hitlers Absichten in die Tat umzusetzen. Abgesehen von den Planungsproblemen – Strasser konnte mit seinem Regiment und dem Geschütz München erst am Morgen des 9. November erreichen – scheiterte man vor allem an der Überschätzung des Bluff-Effekts. Der „Hitler-Ludendorff-Putsch“ brach innerhalb weniger Stunden zusammen. Hitler floh, wurde festgenommen und mit ihm der Großteil der Parteiführung. Die NSDAP fiel einem Verbot anheim. Dasselbe galt für die SA.

 Einen Moment dachte Hitler selbst, daß für ihn und seine Anhänger alles aus sei. Das sollte sich als Irrtum erweisen. Der „Führer“ kam wieder, die NSDAP kam wieder und auch die SA. Während der Haft schrieb Hitler sein Buch „Mein Kampf“, das auch ein Kapitel mit dem Titel „Grundgedanken über Sinn und Organisation der SA“ enthielt, in dem er der Idee des Wehrverbandes eine Absage erteilte. In Zukunft, so stellte er klar, würde die Sturmabteilung neben dem Schutz der Partei nur noch die Aufgabe haben, aktive Propaganda für die „Idee der Bewegung“ zu treiben.


Fotos: „Alte Kämpfer“ der NSDAP feiern den 15. Jahrestag der Partei am 24. Februar 1935; Robert Ley, Karl Fiehler, Viktor Lutze, Franz Ritter von Epp (rechte Tischseite, v.r.n.l.): Ihre notorische Republikfeindlichkeit wurde entweder in Kauf genommen oder stillschweigend geduldet; SA-Abteilung in der Nähe von München 1923: Äußerlichkeiten wie eine einheitliche Uniformierung spielten anfangs noch keine große Rolle; Hermann Ehrhardt