© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Preußens liberalster Reformer
Vor 250 Jahren wurde Hermann von Boyen geboren. Der ostpreußische General und Kriegsminister gilt als Schöpfer der Wehrpflicht
Jürgen W. Schmidt

Die Geschichte hat es wahrlich nicht gut mit Hermann von Boyen gemeint. Obwohl er als preußischer Kriegsminister von 1814 bis 1819 das Gedankengut von Scharnhorst und Gneisenau in der preußischen Armee umzusetzen versuchte, trägt heute weder eine Bundeswehrkaserne seinen Namen, noch rechnet die Bundeswehr den gebürtigen Ostpreußen sonderlich zu ihrer geistigen Tradition.

Dabei wäre gerade Hermann von Boyen ein gutes Beispiel dafür, wie Migranten befruchtend auf Preußen, dessen Staat und Militär einwirkten. Am 23. Juli (nach anderen Angaben am 23. Juni) 1771 kam der zukünftige preußische Militärreformer und zweimalige preußische Kriegsminister im kleinen ostpreußischen Weiler Kreuzburg südlich von Königsberg (heute „Slawskoje“ im Kaliningrader Oblast) zur Welt. Gleich seinem späteren Amtsnachfolger Albrecht von Roon entstammte Boyen einer nach Preußen eingewanderten, ursprünglich niederländischen Offiziersfamilie. Früh verwaist, besuchte der intelligente Junge in Königsberg eine Militärschule, hörte aber gleichzeitig an der Universität Königsberg Vorlesungen des Philosophen Kant, begeisterte sich aber noch mehr an den Vorlesungen des Kantschülers und Nationalökonomen Christian Jakob Kraus. Zeitlebens interessierte sich Boyen lebhaft für nationalökonomische Fragen und suchte den preußischen Königen nahezubringen, daß man die Polen gut in den preußischen Staat integrieren könne, weil die Ausfuhr von deren landwirtschaftlichen Erzeugnissen nur über die preußischen Hafenstädte an der Ostsee möglich sei.

Das ernste wissenschaftliche Streben bei Boyen war so ausgeprägt, daß ihn 1806 sein ostpreußischer Landsmann Johann Gottfried Herder und der Aufklärer Christoph Martin Wieland zu einer wissenschaftlichen Laufbahn überreden suchten, als der Infanterieoffizier nach der Schlacht von Jena und Auerstedt verwundet in Weimar weilte. Doch angesichts der schwierigen Lage Preußens zog es Hermann von Boyen zurück in den Militärdienst, und er wurde von König Friedrich Wilhelm III. als Generalstabsoffizier sowie mehrfach zu militärischen und militärisch-diplomatischen Geheimmissionen nach Rußland verwendet.

Boyen, der neben dem Lateinischen und Französischen auch die Grundlagen des Polnischen beherrschte, ist immer ein guter Kenner der militärischen, geographischen und wirtschaftlichen Probleme Osteuropas gewesen und hat mehrfach angeregt, an preußischen Universitäten Lehrstühle für die polnische Sprache einzurichten. Damit wurde Boyen zu einem frühen Begründer der Slawistik in Deutschland. Gleichzeitig entwickelte sich Boyen zu einem ausgeprägt aufklärerisch-liberal gesinnten Denker. Obwohl er sein Leben lang königstreu und als Monarchist auftrat, galt seine geistige Loyalität weniger der Person des preußischen Königs an sich, sondern mehr dem preußischen Staat als solchem.

Kein Wunder, daß sich ein Mann vom Format Boyens von Scharnhorst und Gneisenau angezogen fühlte und zu deren eifrigsten Bewunderern und geistigen Gefolgsleuten gehörte. Als Scharnhorst zu Beginn der Befreiungskriege gegen Napoleon Anfang Mai 1813 eine Kriegsverletzung erlitt, an welcher er schließlich sterben sollte, wies man in der preußischen Armee deutlich auf Boyen hin, der Scharnhorst sowohl als Kriegsminister wie als Generalstabschef ersetzen könne. König Friedrich Wilhelm III. entschied anders, hier mögen persönliche Sympathien und Antipathien mitgespielt haben, und er ermannte Boyen zum Generalstabschef des III. preußischen Armeekorps unter General von Bülow. Mit diesem Armeekorps machte Boyen alle Schlachten und Gefechte der Befreiungskriege mit, erwarb sich das Eiserne Kreuz und wurde zum General befördert.

Aus Protest gegen die Karlsbader Beschlüsse trat er 1819 zurück

Im Jahr 1814 konnte Friedrich Wilhelm III. schließlich nicht mehr umhin, Boyen zum preußischen Kriegsminister zu ernennen. Boyen setzte sogleich in der preußischen Armee den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht um, formte die disziplinare Praxis entsprechend den Erfordernissen der beginnenden bürgerlichen Gesellschaft und sorgte dafür, daß nicht allein Geburt und Titel, sondern auch Kenntnisse und Charakter in der preußischen Armee künftig den Weg in die Offizierslaufbahn öffneten. Seine liberale Denkungsart zeigte Boyen deutlich, als er nach den für den Deutschen Bund Geltung bekommenden, reaktionären „Karlsbader Beschlüssen“ zur Bekämpfung von liberalem und nationalem Gedankengut 1819 sein Amt als Kriegsminister zur Verfügung stellte, weil er sich damit absolut nicht identifizieren konnte. Friedrich Wilhelm III. nahm diesen Rücktritt ungnädig auf und kürzte die Boyen zustehende Pension deshalb um die Hälfte. Im Ruhestand widmete sich Boyen militärischen und nationalökonomischen Studien, schrieb eine Vielzahl von Denkschriften zur polnischen Frage und verfaßte seine Lebenserinnerungen.

Nach dem Tod von König Friedrich Wilhelm III. berief ihn 1841 dessen ältester Sohn Friedrich Wilhelm IV. 1841 wieder zum preußischen Kriegsminister, angeblich mit den Worten: „Wir beide sind die beiden einzigen Liberalen in der Regierung.“ Doch alt und kränklich geworden, konnte Boyen nicht mehr mit gewohntem Schwung Militärreformerisches in der nach den Befreiungskriegen konservativ verkrusteten preußischen Armee umsetzen. 1847 bat Boyen den König angesichts seines schlechten Gesundheitszustandes um den Abschied, der ihm unter Verleihung des Ranges als Generalfeldmarschall erteilt wurde. Kurz vor Ausbruch der Revolution von 1848 ist Hermann von Boyen in Berlin verstorben und liegt auf dem dortigen Invalidenfriedhof begraben.

Preußens Heeresreformer Hermann von Boyen (1771–1848): Die Armee den Erfordernissen der beginnenden bürgerlichen Gesellschaft anpassen