© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Warnungen erfolgten zu spät
Anhaltender Starkregen durch ein eingeklemmtes Tiefdruckgebiet löst eine Jahrhundertkatastrophe aus
Holger Douglas

Die Ahr, ein linker Nebenfluß des Rheins, führte durch Gewitterregen bereits seit Tagen Hochwasser. Dann entlud sich „ein erneutes Unwetter in der Hoch- und Ahreifel mit riesigen Niederschlagsmengen. Alle zur Ahr führenden Nebenflüsse, vor allem der Trier-, Adenauer und Kesselinger Bach, schwollen innerhalb kürzester Zeit stark an. Eine alles wegreißende Flutwelle füllte die Täler und ließ das gesamte Ahrsystem über die Ufer treten“, heißt es in dem Bericht von vergangener Woche? Nein, es ist ein zeitgenössischer Bericht über eines der folgenschwersten dokumentierten Hochwasser der Ahr.

Im Juli 1804 gehörten die deutschen Gebiete links des Rheins zu Frankreich. Der Starkregen forderte „63 Menschenleben. 129 Wohnhäuser, 162 Scheunen und Stallungen, 18 Mühlen, acht Schmieden und nahezu alle Brücken, insgesamt 30, wurden von den Wassermassen weggerissen. Weitere 469 Wohnhäuser, 234 Scheunen und Ställe, zwei Mühlen und eine Schmiede wurden beschädigt. 78 Pferde und Zugrinder kamen in den Fluten um, Obstbäume wurden entwurzelt, Weinberge abgespült, die gesamte EAXrnte vernichtet und Wiesen und Felder in der Talaue hoch mit Sand und Kies überschüttet“, hieß es weiter.

Das nächste Ahr-Jahrhunderthochwasser, im Juni 1910, „forderte insgesamt 52 Menschenleben, zumeist Bahnarbeiter. Diese wurden teilweise mit ihren Baracken fortgerissen und ertranken. Alle Ortschaften im Tale des Trierbach, Adenauerbach und der oberen und mittleren Ahr erlitten erhebliche Schäden, nahezu alle Brücken wurden zerstört“, heißt in einer Chronik des Kreises Ahrweiler. Bei der jüngsten Katastrophe starben in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen mindestens 166 Menschen, die Sachschäden liegen in Milliardenhöhe. Ältere Bewohner des Ahrtales wissen, daß Hochwasser im Sommer schnell ansteigen, mit große Wassermengen eine enorme Strömungsgeschwindigkeit erreichen. Chroniken berichten, daß zyklische Hochwasser sogar genutzt wurden, um Bäume die Ahr hinunterzuflößen.

Bereits seit 1790 sind Forderungen dokumentiert, die Ahr zu regulieren, damit sie „in ihren Ufern eingeschränkt“ werde. Zuerst sind es nur kleinere Hindernisse, die in den Wasserlauf eingebaut werden, sogenannte Ahrkrippenbauten. Einschneidende Regulierungsarbeiten begannen ab 1880. Doch die damals errichteten Stauwehre und Staustufen an der Ahr wurden in den vergangenen Jahren wieder zurückgebaut. Jetzt galt „zurück zur Natur“, den Flüssen sollte wieder ein „natürlicher“ Lauf verpaßt werden. Eine Folge zeigte sich vorige Woche: Die außergewöhnlich starken Regenmassen konnten jetzt ungehindert zu Tal schießen und mit ihrer ungeheuren Kraft alles mitreißen, was im Weg stand.

Über all diesen Renaturierungsgedanken geriet die Gefahr aus dem Sinn – die Warnungen erfolgten zu spät. Erst am 16. Juli löste Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) den militärischen Katastrophenalarm aus, denn der einstige Bunker der Bundesregierung im Ahrtal wurde vor mehr als 20 Jahren stillgelegt. Das Hochwasser kam schnell, aber nicht überraschend: „Schuld war das Tiefdruckgebiet Bernd über Deutschland“, erläutert der Meteorologe Dominik Jung. Es war „quasi die Grenze zwischen einer sehr schwülwarmen Luftmasse in Osteuropa und kühlen Luftmassen in Westeuropa, eingeklemmt zwischen diesen beiden Wetterlagen“, so der Geschäftsführer der Q.met GmbH, die das Portal Wetter.net betreibt. „Deshalb hat sich über Stunden hinweg der starke Regen immer am gleichen Ort entladen.“ Das Europäische Hochwasserwarnsystem (Efas) hatte bereits zu Beginn der vergangenen Woche eine „extreme Flutwarnung“ für die Region herausgegeben. Die hohen Todeszahlen sind für die Hydrologin Hannah Cloke von der englischen University of Reading ein „erhebliches Versagen des Systems“.

„Einige haben Gefahren unterschätzt und Regeln ignoriert“

Der Pegel Bliesheim zeigte am 14. Juli um 12 Uhr 87 Zentimeter an, sechs Stunden später 203 Zentimeter. Von einem „tödlichen Versagen des Katastrophenschutzes“ spricht Bild. „Einige Opfer haben die Gefahr unterschätzt und zwei Grundregeln bei Starkregen nicht beachtet: 1. bei Wassereintritt Kellerräume meiden, 2. sofort Strom abschalten“, entgegnet der Chef des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Armin Schuster (CDU). Besonders überrascht wurden die Bewohner von Erftstadt-Blessem im Rhein-Erft Kreis. Die Siedlung liegt direkt an der wichtigen A 61, die von den Niederlanden nach Nordbaden führt. Die Erft, die ansonsten brav bei Neuss in den Rhein mündet, schwoll innerhalb von wenigen Stunden zu einem reißenden Gewässer an.

Besonders fatal: eine Kiesgrube, bereits 60 Meter tief ausgehoben. Ihr weiterer Ausbau war erst vor fünf Jahren genehmigt worden. Das riesige Loch füllte sich rasch mit Wasser, erzeugte dabei einen starken Sog, der noch mehr Wassermassen anzog. Die spülten den sandigen Untergrund mit, verursachten eine rückschreitende Erosion bis an die Ortsgrenze von Blessem. Ein kompletter Acker wurde abgetragen, eine Reithalle und mehrere Häuser unterspült und zerstört. Ähnlich wie eine Sandburg, die vom Wasser abgebaut wird, beschreibt Diplomgeologe Matthias Habel den Vorgang. Gleichzeitig wurde die Hauptstraße in Blessem aufgerissen, die Abwasserleitungen freigelegt.

300 Meter Mindestabstand von Ortsrändern: so lautet die Vorschrift für Kiesgruben. Reicht das? Doch mehr Abstand bedeutet weniger Nutzfläche für Kiesgruben. Das Material ist als Grundstoff für Beton unabdingbar. Die vor den Amerikanern im sumpfigen Florida siedelnden Seminolen wußten, daß es eher ungünstig ist, zu nahe am wässrigen Erdreich zu siedeln. Heute leben im „Sunshine State“ 21,6 Millionen Menschen – trotz regelmäßiger Hurrikans mit zahlreichen Toten. Auch gefährlichen „Sink Holes“, plötzliche Löcher im Karstkalkboden, schrecken niemanden ab: Die 27 Meter tiefe Doline von Winter Park bei Orlando verschlang 1981 fünf Porsche in einer Werkstatt, einen Pickup, das städtische Schwimmbad und große Teile des Denning Drive.

Das gilt ähnlich auch für die Bewohner des Kölner Raumes. Vulkanologen weisen seit langem auf die geologischen Aktivitäten der Maare in der Vulkaneifel hin. Aus dem Maria Laacher See steigen seit langem Gasblasen aus dem Untergrund auf. Das deutet auf Aktivität hin. Trotz Erdbeben- und Vulkangefahr wohnen im Kölner Becken Millionen Menschen.



Historische Ahr-Hochwasser seit 1348: kreis-ahrweiler.de
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