© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

„Geisterfahrer der Energiepolitik“
Ist die deutsche Energiewende ein Mythos? Ja, urteilt der Publizist Frank Hennig, ehemaliger Ingenieur in der Stromwirtschaft. In seinem neuen Buch „Klimadämmerung“ warnt er vor Deutschlands Weg in den Abstieg
Moritz Schwarz

Herr Hennig, jetzt nach der verheerenden Flut muß es doch endlich schnell gehen mit der Energiewende! 

Frank Hennig: Vorsicht, bei allen Emotionen angesichts solcher Katastrophen ist eine nüchterne Politik, die die Folgen bedenkt, angebracht. Stattdessen drängen etliche zu emotionalen Entscheidungen und fordern, die wenig erfolgreichen Mittel, die wir schon seit zwanzig Jahren nutzen, verstärkt anzuwenden. 

Was meinen Sie? 

Hennig: Es gibt keinerlei Monitoring, also überwachende Beobachtung, was die deutsche Klimapolitik bisher gebracht hat. Zwar haben wir seit 1990 die deutsche CO2-Emission um 36 Prozent verringert, doch inwieweit dadurch der Anstieg der globalen Temperatur gebremst wurde, ist völlig unklar. Die hat seitdem weiter zugenommen, und sie wird das auch künftig tun, weil die Weltbevölkerung wächst. Drei Milliarden Menschen mehr bis zum Jahr 2100 bedeuten auch, vorsichtig gerechnet, neun Milliarden Tonnen CO2 mehr pro Jahr. Ob Deutschland 2045, 2050 oder später dekarbonisiert sein wird, ist – bei der dadurch erreichten Vermeidung von nur etwa 700 Millionen Tonnen – für das Weltklima unerheblich. Mojib Latif, ein führender Klimawissenschaftler im Land, sagt: „Natürlich kann Deutschland das Klima nicht retten, aber wir müssen Vorbild sein.“ Deshalb wünsche ich mir eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber, was uns diese Rolle wert ist – zumal unserem Beispiel niemand folgt. Tatsächlich sind wir mit unseren Maßnahmen nicht der Vorreiter, sondern der Geisterfahrer der globalen Energiepolitik.

Ist die deutsche Energiewende also eine Art Mythos?

Hennig: In der Tat ist ihre Darstellung als eine „große Erzählung“ angelegt, die von Wunschdenken geprägt ist. Anstelle Lieblingstechnologien zu hofieren, sollte pragmatisch nach den kostengünstigsten Alternativen gesucht werden, um eine sichere Versorgung zu geringen Systemkosten zu erreichen.

Was ist dann davon zu halten, daß etwa Markus Söder nach der Flut einen „Neustart nach der Bundestagswahl“ für Erneuerbare Energien gefordert hat?

Hennig: Es ist unklar, was er damit meint, vermutlich mehr von den alten Erneuerbaren. Photovoltaik ist in Bayern gut ausgebaut, aber abends geht auch dort die Sonne unter. In der Fläche gibt es im Freistaat, abgesehen von Bergkämmen, keine Windeignungsgebiete. In großen Teilen Bayerns liegt die durchschnittliche Windgeschwindigkeit unter sieben Metern pro Sekunde – die Anlaufgeschwindigkeit der Anlagen beträgt aber drei Meter pro Sekunde. Windmühlen würden also meist nur in niedriger Teillast vor sich hin trudeln, was auch wirtschaftlich keinen Sinn hat. Ein vorgezogener Kohleausstieg, wie von Söder vorgeschlagen, würde die in den nächsten Jahren eintretende Strommangelsituation im heute schon von Stromimporten abhängigen Bayern verschärfen. Die CSU hat den Kernenergieausstieg 2011 noch vor dem Bundestag beschlossen. Nun will Söder auch keine Kohle mehr. Als Populist wird er später keine Fehler bei sich entdecken, sondern Schuldige suchen. Dabei ist es grundsätzlich ja richtig, Emissionen zu senken, nur sollte das auf pragmatische Weise geschehen, also mit Aussicht auf Erfolg und unter Berücksichtigung der Folgen. 

Inwiefern ist das denn nicht der Fall?

Hennig: Das energiepolitische Zieldreieck aus Versorgungssicherheit, Preiswürdigkeit und Umweltverträglichkeit ist inzwischen einem rigorosen CO2-zentrierten Denken zum Opfer gefallen. Der Umweltschutz verliert gegen den „Klimaschutz“, und die Versorgungssicherheit wird sträflich vernachlässigt – von den Verbraucherpreisen gar nicht zu reden. Die Rationalität bleibt also auf der Strecke, und damit wären wir wieder beim Thema Mythos. 

Aber wie sollte es möglich sein, daß ein ganzes Volk, inklusive Wissenschaftlern und Technikern, im Jahr 2021 einem Mythos huldigt?

Hennig: Ähnlich wie bei der Pandemie gibt es eine Selektion der veröffentlichten Meinungen. Es treten in Medien und Politik meist dieselben Sachverständigen auf, die zum großen Teil auch Interessenvertreter sind. Diejenigen aber, die unsere Infrastruktur am Laufen halten, die Netz- und Kraftwerksbetreiber, kommunale Unternehmen, Vertreter energieintensiver Industrien, werden kaum gefragt und gehört. Gerade dort besteht aber große Übereinstimmung darüber, daß dieser Weg nicht erfolgreich sein wird.

Wollen Sie damit sagen, der Eindruck täuscht, daß die Mehrheit der Experten hinter der Energiewende steht und ihre Kritiker nur eine Minderheit sind?

Hennig: Es gibt keine Statistik über eine vermeintliche mehrheitliche Zustimmung. Auffällig ist, daß sich diejenigen sehr kritisch äußern, die keine Karriere mehr anstreben, emeritierte Professoren, ehemalige Manager, Politiker auf dem Altenteil. Aktive hingegen unterliegen Sachzwängen, wie der Zuteilung von Fördermitteln. Ein Großteil der Experten lebt davon, die Hoffnungen in die Energiewende aufrechtzuerhalten, denn nur das garantiert stete Geldflüsse. Befristet angestellte Manager stehen unter Kontrolle auch politisch besetzter Aufsichtsräte, von ihnen erwartet man Politische Korrektheit.

Sie sagen in Ihrem neuen Buch eine „Klimadämmerung“ voraus. Was meinen Sie mit dem Begriff?

Hennig: Damit meine ich nicht das meteorologische Klima, das behandele ich nur am Rande. Es geht vielmehr um das politische, wirtschaftliche, mediale und soziale Klima im Land, das zunehmend „dämmert“. Die Klima- und Energiepolitik wird sich mit ihren schwer prognostizierbaren, vermutlich irreparablen Auswirkungen auf allen anderen Feldern der Gesellschaft niederschlagen. Die Eigendynamik bei den Energiepreisen, durch zusätzliche Steuern verschärft, ist nur ein Teil davon. Wir sind im Abstieg begriffen, ohne es wahrzunehmen.

Fritz Vahrenholt, der zu Ihrem Buch das Vorwort beigesteuert hat, lobt Ihre „detaillierte Aufarbeitung der falschen Pfade, die die Energiepolitik in Deutschland genommen hat“. Welche sind das? 

Hennig: In meinem ersten Buch „Dunkelflaute“ habe ich 2017 drei Grundirrtümer und drei Grundfehler der Energiewende beschrieben: Der Kardinalirrtum ist, sichere und regelfähige Strom­einspeisung durch volatile, also flüchtige, wetter- und tageszeitabhängige Stromeinspeisung ersetzen zu wollen. Dies wäre nur mit hohen Überkapazitäten und riesigen Stromspeichern möglich. Ohne solche Speicher jedoch ist das technisch unmöglich, und mit solchen Speichern ist es finanziell nicht zu leisten. Ein anderer Denkfehler ist, das globale Klima von deutschem Boden aus allein durch völlige Vermeidung nationaler CO2-Emissionen „retten“ zu wollen. Dies ist eine Politikanmaßung höchsten Grades. Wir hätten die Möglichkeit gehabt, durch Technologieexport zu weltweiten Emissionssenkungen beizutragen. Aber sowohl moderne Kohletechnologie, Kernkraft als auch die CCS-Technologie, das Abscheiden und Speichern von CO2 aus Rauchgasen – alles Gebiete, auf denen wir führend waren –, sind aus politisch-ideologischen Gründen aufgegeben worden. Heute empfiehlt das IPCC, also der Weltklimarat, die Kernkraft als Instrument gegen globale Erwärmung und sagt klar, daß zur Erreichung des 1,5-, sogar des 2-Grad-Ziels negative Emissionen nötig sind. Die hätten wir durch die Entwicklung des Biomasse-CCS ermöglichen und global zur Verfügung stellen können. Selbst die Strategie der globalen – und preiswerten – Aufforstung wird von Deutschland aus nicht betrieben, denn das gibt keine Profite für die Ökoindustrie. Im Gegenteil sorgt unser Holzverbrennungsboom dafür, daß in Rumänien und dem Baltikum der Raubbau an den Wäldern eingesetzt hat, um deutschen Pelletheizern ein grünes Gewissen zu ermöglichen.

Wenn das Hauptgegenargument – die Energiewende sei nicht grundlastfähig, die Versorgung nicht garantiert – zutrifft, warum dringt es dann nicht durch?

Hennig: Die Energiewende findet in einem Geflecht von Interessen statt. Am Ende geht es um sehr viel Geld. Mehr als dreißig Milliarden Euro werden jährlich über das EEG umgewälzt – wir könnten damit den Schweizern jedes Jahr zwei Gotthard-Basistunnel schenken. Die reiche Branche gibt viel Geld aus für Werbung, PR und die Beeinflussung von Politik. Grüne Thinktanks leben von Daueraufträgen der Ökoindustrie und liefern gewünschte Ergebnisse. Berechnungen werden mit realitätsfremdem Ansatz geführt, so bedient man sich oft an Durchschnittswerten, die im Stromsystem, das sekündlich im Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch stehen muß, unbrauchbar sind. Das Märchen, man müsse einfach immer nur mehr Wind- und Solaranlagen hinbauen, dann würde die Wende gelingen, ist politisch motiviert, wird aber von meist regierungsbegleitenden Medien folgsam verbreitet.

Oder ist Ihr Hauptgegenargument doch nicht stichhaltig? Denn, so kontern die Vertreter der Energiewende, durch Lastenmanagement, Netz- und Speicherausbau sei Versorgungssicherheit sehr wohl möglich.  

Hennig: All diese Maßnahmen sind sinnvoll, lösen jedoch das Grundproblem nicht. Beim Netzausbau wird jährlich festgestellt, daß der Ausbaubedarf steigt. Und die Speicherdiskussion findet mit dem Verweis auf grünen Wasserstoff im Grunde nicht mehr statt. Die Strategie der Bundesregierung führt als Ziel eine Elektrolyseleistung von fünf Gigawatt für 2030 an. Das ist im Grunde nur eine homöopathische Menge, die im Falle der Stromspeicherung – Stichwort „Power-to-Gas-to-Power“ – einen desolaten Wirkungsgrad von höchstens 25 Prozent erreicht. Wie wir das Stromaufkommen für unsere Selbstversorgung nun in den zwanziger Jahren sichern könnten, ist hingegen vollkommen offen. Ein Lastmanagement gibt es bereits, und es ist auch möglich, es auszubauen und flexibler zu gestalten. Doch führt eine Verbrauchersteuerung unter den Bedingungen des Mangels letzten Endes zu Rationierungen.

Allerdings hat Deutschland zuletzt trotz Energiewende und AKW-Abbau sogar mehr Strom exportiert – und das selbst in Hochlastzeiten – als vor Beginn der neuen Energiepolitik. Widerlegt Sie das nicht?  

Hennig: Tatsache ist, daß unser jährlicher Nettoexport von Strom in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen ist und spätesten ab 2022 in einen Nettoimport umschlagen wird. Dazu kommt, daß wir zu Zeiten exportieren, in denen die Nachbarländer selbst viel Ökostrom erzeugen und die Preise niedrig, ja sogar negativ sind. Bei Dunkelheit und wenig Wind sind wir schon heute auf Importe angewiesen, dann allerdings zu hohen Preisen.

Schon seit zehn Jahren wird nun über die Energiewende diskutiert. Bietet Ihr Buch denn auch neue Gegenargumente? 

Hennig: In „Klimadämmerung“ versuche ich, von verschiedenen Seiten Licht in die Dämmerung zu bringen. Das ist in Teilen eine Beschreibung des Istzustandes, geht aber über die Betrachtung von Technologien und über den deutschen Tellerrand hinaus. Energie betrifft alle Bereiche unseres Lebens. Deshalb geht es auch um Politik und Medien, Jugend und NGOs. Neu sind die Erkenntnisse zu den Umweltauswirkungen der Erneuerbaren, vor allem durch ihren exzessiven Ausbau. Natürlich haben mehr als 30.000 Windkraftanlagen und viele hundert Quadratkilometer Solarpaneele Auswirkungen auf Wetter und Klima. Die Gebiete der größten Bodentrockenheit sind auch die Gebiete mit dem größten Besatz an Windkraftanlagen. Das ist ein Indiz, aber noch keine Kausalität. Es ruft nach dringend erforderlichen Messungen und Forschungen, wofür es staatlicherseits aber kein Geld gibt. Die maßgebende Politik und entsprechende Lobby hüten das Narrativ von der Umwelt- und Klimaneutralität der Erneuerbaren. Wissenschaftler in China und den USA dagegen sind schon weiter und können etwa die Absenkung der durchschnittlichen Windgeschwindigkeiten durch Windkraftanlagen und dadurch steigende Temperaturen in bestimmten Regionen beziffern.

Allerdings haben die herkömmlichen Energien auch jenseits vom CO2 etliche Nachteile, giftige Abgase, strahlende Rückstände, begrenzte Ressourcen, Import­abhängigkeit oder das GAU-Restrisiko. Ist irgendeine Form von Energiewende also nicht doch nötig?

Hennig: Alle Länder der Welt bauen ihre Energiesysteme aus, modernisieren und restrukturieren. Der Trend ist, den Energiemix zu verbreitern, das hält die Kosten und die Umweltauswirkungen niedrig und steigert die Versorgungssicherheit. Deutschland ist das einzige Land der Welt, das seinen Ener-giemix ohne Not einengt und das Energiesystem vor allem auf Basis schwankender naturabhängiger Quellen betreiben will. Dabei begeben wir uns bezüglich der noch nötigen fossilen Energierohstoffe zu hundert Prozent in Abhängigkeit vom Ausland, selbst Wasserstoff wird in großen Mengen importiert werden müssen. Weniger deutscher Hochmut und mehr lernen von anderen wäre angesagt. 

Angela Merkel hat jüngst mit Blick auf das Ende ihrer Kanzlerschaft gesagt, sie hinterlasse ein „starkes Land“.

Hennig: Führungspersönlichkeiten, die lange amtieren, neigen zu Realitätsverlust. Tatsächlich hinterläßt sie ein tief gespaltenes Land. Die Folgen einiger ihrer politischen Fehlentscheidungen werden uns noch lange beschäftigen.






Frank Hennig, der Diplomingenieur, geboren 1956 in Görlitz, war für große Energieversorger wie VEAG oder Vattenfall tätig. Als Publizist veröffentlichte er etwa im Focus, außerdem die Bücher „Dunkelflaute. Warum Energie sich nicht wenden läßt“ (2017) und „Klimadämmerung. Vom Ausstieg zum Abstieg – Ein Plädoyer für mehr Vernunft in der Energiepolitik“ (2021).

Foto: Elektrisch illuminierter Reichstag: „Die Klima- und Energiepolitik Deutschlands wird sich mit vermutlich irreparablen Auswirkungen auf allen Feldern unserer Gesellschaft niederschlagen“