© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

Und ziehen mit dem Spaten
Nach der Flut: Bei Katastrophen muß die Bundeswehr ran / Ein General fordert Reformen
Peter Möller

Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe. Noch bietet sich den Tausenden Helfern in den vor gut drei Wochen vom Hochwasser betroffenen Gebieten in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz vielerorts ein Bild der Verwüstung. Doch während Bundeswehr, Technisches Hilfswerk, Feuerwehr und freiwillige Helfer Straßen und Häuser freiräumen, Unmengen an Sperrmüll entsorgen und Stück für Stück die Infrastruktur zumindest provisorisch wiederherstellen, ist längst eine Diskussion darüber entbrannt, was das nächste Mal, wenn eine Katastrophe das Land heimsucht, besser laufen könnte, ja besser laufen muß.

Wann die nächste Flut, der nächste Waldbrand oder eine Schneekatastrophe kommt, weiß heute niemand. Daher drängt der für den Hilfseinsatz der Bundeswehr im Krisengebiet verantwortliche Inspekteur der Streitkräftebasis, Generalleutnant Martin Schelleis, zur Eile. Die bei der Flutkatastrophe und der parallel die Bundeswehr immer noch fordernden Corona-Pandemie zutage getretenen Defizite im Katastrophenschutz müßten schnell beseitigt werden. „Beide Katastrophen haben dringenden Handlungsbedarf zur Verbesserung des nationalen Führungssystems auf allen Ebenen gezeigt“, sagte Schelleis in der vergangenen Woche. Nach der Flutwelle Mitte Juli waren im Zuge der Amtshilfe in der Spitze 2.300 Soldaten und 100 Zivilbeschäftigte der Bundeswehr mit schwerem Gerät in den Krisengebieten im Einsatz.

Der General drängt vor allem darauf, die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Einsatzkräfte zu verbessern. Ziel müsse es sein, daß alle die für die Krisenbewältigung nötigen Informationen teilen könnten und über ein „gemeinsames Lagebild“ verfügten. Mit anderen Worten: Alle Helfer müssen jederzeit wissen, wo sie benötigt werden und wo andere Kräfte bereits im Einsatz sind. Davon sei man derzeit weit entfernt. „Und vieles ist tatsächlich wie in alter Zeit mit Karte und Fettstift. Dort werden die Lageinformationen auf allen Ebenen zusammengetragen“, berichtet Schelleis.

Nach dem Kalten Krieg wollte man vor allem eines: Geld sparen

Vor allem wenn eine Katastrophe sich wie im aktuellen Fall über mehrere Orte und eine ganze Region erstreckt, sei es schwierig, ein aktuelles Lagebild zu erstellen und kontinuierlich fortzuschreiben. „Daraus folgt, daß die Prioritäten vielleicht nicht immer richtig gesetzt werden können und die entsprechende Koordination der Einsatzkräfte auch nicht optimal läuft“. Die Bundeswehr und alle anderen relevanten Akteure müßten sich „kritisch prüfen, was wir jetzt für Erkenntnisse haben und was wir aus dieser erneuten Katastrophe lernen“.

In dieser und ähnlichen Bewertungen schwingt die Erkenntnis der Verantwortlichen mit, daß die Organisation des Katastrophenschutzes in den vergangenen Jahrzehnten sträflich vernachlässigt wurde. Dabei fehlt es nicht unbedingt an geeignetem Material, Gerät und Helfern, sondern an einer effektiven und übergreifenden Organisation und Führung, um gezielt und vor allem schnell dort Hilfe zu leisten, wo es notwendig ist.

Positiv bewertete Schelleis daher Überlegungen, beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) ein gemeinsames Kompetenzzentrum für Bevölkerungsschutz unter Beteiligung der Länder und der Bundeswehr zu schaffen. Dies könne nach seiner Auffassung allerdings nur ein erster Schritt sein hin zu einer zentralen Koordinierungsplattform auf der Bundesebene. Innerhalb der Bundeswehr wurden bereits 2013 mit der Aufstellung des Kommandos Territoriale Aufgaben entsprechende Strukturen geschaffen, die General Schelleis als Nationalem Territorialen Befehlshaber zur Führung sämtlicher Einsätze der Bundeswehr im Inland dienen. Vor allem bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit soll das Kommando als koordinierende Leitstelle dienen, in der sämtliche Informationen zusammenlaufen, Ressourcen identifiziert, Maßnahmen beschlossen und Anfragen auf Amtshilfe umgesetzt werden.

Nach dem Ende des Kalten Krieges gab es nicht nur bei der Bundeswehr, sondern auch beim Zivil- und Katastrophenschutz, der damals auch darauf ausgerichtet war, bei einem möglichen (atomaren) militärischen Konflikt in Mitteleuropa den Schutz und die Versorgung der Zivilbevölkerung zu organisieren, das Bestreben, die sogenannte „Friedensdividende“ einzustreichen – mit anderen Worten: Geld zu sparen. Dabei wurden viele Strukturen ausgedünnt beziehungsweise gleich ganz abgewickelt. So kam es 1997 beispielsweise zur Auflösung des Bundesverbandes für den Selbstschutz, der mit Schulungen die Bevölkerung in die Lage versetzen sollte, sich im Katastrophen- und Verteidigungsfall richtig zu verhalten. Hierzu wurden unter anderem Lehrgänge für Brandschutz, Bergung und Sanitätsdienst angeboten.

Zumindest bei der Bundeswehr wurde mittlerweile damit begonnen, einen Teil der Strukturen, die nach dem Kalten Krieg aufgelöst wurden, wiederherzustellen. Dies gilt insbesondere für die Bevorratung von Verbrauchsgütern, Material und Ersatzteilen, die entscheidend für die sogenannte Durchhaltefähigkeit auch in Krisenfällen ist. Im Januar 2019 fiel die Entscheidung, acht bereits geschlossene Depots der Bundeswehr, davon fünf Materiallager und drei Munitionslager, bis 2029 wieder in Betrieb zu nehmen. Hierfür stellt der Bund 200 Millionen Euro zur Verfügung. Das erste Materiallager wurde ausgerechnet am 12. Juli – zwei Tage vor der verhängnisvollen Flutwelle in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, von General Schelleis im nordrhein-westfälischen Königswinter wieder in Betrieb genommen.

Auch in der Bevölkerung hat die Flutkatastrophe offenbar den Eindruck verstärkt, daß die Schutzkonzepte überarbeitet werden müssen. Das zeigen die Ergebnisse einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur. So antworteten knapp 87 Prozent der Befragten auf die Frage, ob es sinnvoll sei, zur Warnung der Bevölkerung vor Überflutungen, Waldbränden und anderen akuten Gefahren, Sirenen einzusetzen, mit „Ja“. Sieben Prozent der Deutschen halten den Einsatz von Sirenen für diesen Zweck nicht für sinnvoll. Sechs Prozent der Befragten hatten dazu keine klare Meinung. Nach Ende des Kalten Krieges waren viele Warnsirenen abgebaut worden. Nun will der Bund mit einem 88 Millionen Euro umfassenden Förderprogramm alte Sirenen modernisieren und neue aufstellen.

Hilfe aus dem Europäischen Katastrophenschutz-Pool des Emergency Response Coordination Centre (ERCC) der Europäischen Union hat die Bundesregierung indes trotz der Verheerungen durch die Wassermassen nicht angefordert. Das entsprechende EU-Katastrophenschutzverfahren sei von Berlin aus nicht aktiviert worden, teilte das Bundesinnenministerium in seiner Antwort auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Thomas Seitz (AfD) mit. Voraussetzung für die Aktivierung des Unionsverfahrens sei „ein nationaler konkreter Hilfebedarf, der im Zuge eines Unterstützungsersuchens auch detailliert gegenüber der Europäischen Kommission dargelegt werden müßte“, heißt es in dem Schreiben von Staatssekretär Helmut Teichmann, das der JUNGEN FREIHEIT vorliegt. Aktuell seien „über 30.000 Einsatzkräfte von Feuerwehr, Landespolizei, Bundespolizei, Katastrophenschutz, Hilfsorganisationen, Technischem Hilfswerk und Bundeswehr im Einsatz“, schreibt der Spitzenbeamte des Innenministeriums weiter.

Zu keinem Zeitpunkt hätten die von der Hochwasserkatastrophe betroffenen Länder oder deren Katastrophenschutzbehörden das dafür zuständige Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) gebeten, das Unionsverfahren zu aktivieren, um „die EU-Mitgliedstaaten und anderen Teilnehmerstaaten um Unterstützung zu bitten“. Für den Bundestagsabgeordneten aus Baden-Württemberg ein unverständliches Vorgehen. „Das Nichtabrufen von Hilfs-Ressourcen angesichts einer Katastrophe historischen Ausmaßes, bei der mittlerweile über 180 Tote zu beklagen sind, ist eine politische Bankrotterklärung und Ausweis für die Unfähigkeit beim Krisenmanagement“, sagte Seitz der JF. Die EU stehe bereit, „mit unserem Katastrophenschutzverfahren“ zu helfen, teilte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) mit, nachdem Belgien am 14. Juli um Hilfe gebeten hatte. Die Bundesregierung sieht für dieses Angebot aus Brüssel derzeit keinen Bedarf. „Bislang stehen für die erforderlichen Bewältigungsmaßnahmen ausreichende nationale Kapazitäten zur Verfügung“, so Innenstaatssekretär Teichmann.

Unterdessen prüft die Staatsanwaltschaft Koblenz mögliche Versäumnisse bei der Warnung vor dem Hochwasser. Im Raum stehe der „Anfangsverdacht der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung“ durch unterlassene oder verspätete Warnungen und Evakuierungen der Bevölkerung, teilte die Behörde mit. Vorwürfe wurden auch gegen den Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), erhoben. So seien nach der Warnung vor einem Pegelstand der Ahr von fast sieben Metern durch das Landesamt für Umwelt erst anderthalb Stunden später Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet worden. Pföhler nannte die Schuldzuweisungen „völlig deplaziert und geschmacklos“. Noch könne „niemand im Bund, im Land oder im Kreis seriös die Fragen nach Verantwortlichkeiten beantworten“, sagte er dem Bonner General-Anzeiger. Dies müsse später „sehr sorgfältig aufgearbeitet werden“. 





Schulter an Schulter

Seit es 2013 aufgestellt wurde, dient das Kommando Territoriale Aufgaben der Bundeswehr in Berlin dem Nationalen Territorialen Befehlshaber für sämtliche Einsätze der Bundeswehr im Inland – vor allem bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit. In der Operationszentrale sind mindestens vier, im Krisenfall aber auch 60 Soldaten im Schichtbetrieb an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr im Dienst. Dabei stehen die Kreis- und Bezirksverbindungskommandos den zivilen Strukturen der unteren Katastrophenschutzbehörden (Landkreise und kreisfreie Städte) sowie Bezirksregierungen (wenn im Bundesland vorhanden) bzw. Polizeipräsidien zur Seite. Grundlage ist der Artikel 35 des Grundgesetzes, der alle Behörden des Bundes und der Länder verpflichtet, sich gegenseitig Amtshilfe zu leisten. (vo)