© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

Der Druck steigt
Corona: Wissenschaft und Politik streiten darüber, was jetzt nötig ist – und was nicht
Jörg Kürschner

Nach einer langen Phase des Zuwartens ist die Politik unter Zeitdruck geraten und hat jetzt auf die moderat steigenden Infektionszahlen mit einer Impfempfehlung für Jugendliche und einer generellen Testpflicht für Urlaubsheimkehrer reagiert. Aufgrund erheblicher Kritik an den Maßnahmen werden am kommenden Dienstag bei dem vorgezogenen Treffen der Länder-Ministerpräsidenten mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schwierige Beratungen über das weitere Vorgehen in der vierten Welle der Corona-Pandemie erwartet; nicht zuletzt wegen der näher rückenden Bundestagswahl am 26. September.

Den Beschlüssen vorausgegangen waren erstmals Differenzen zwischen dem Robert-Koch-Institut (RKI) und dessen oberstem Dienstherrn, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, über die Inzidenz als Hauptrichtwert in der Pandemie. Während RKI-Chef Lothar Wieler weiterhin eine Niedrig-Inzidenz-Strategie forderte, widersprach der CDU-Politiker: „Mit steigender Impfrate verliert die Inzidenz an Aussagekraft“. Daher brauche es „zwingend weitere Kennzahlen, um die Lage zu bewerten“, etwa die Zahl der neu aufgenommenen Covid-19-Patienten im Krankenhaus. Ähnlich äußerte sich auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz.  

Deutliche Differenzen rief auch der einstimmige Beschluß der Gesundheitsminister von Bund und Ländern hervor, Zwölf- bis 17jährigen ein Impfangebot zu machen. Dahinter steckt die Sorge vor erneutem Wechsel- und Distanzunterricht. 

Man stehe ehrlicherweise nicht viel besser da als im vergangenen Jahr, klagte Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Das Bundesprogramm für Luftfilter „kam ja viel zu spät – erst im Juli“. Ab September sollen außerdem besonders gefährdete Menschen wie Höchstbetagte sowie Pflegebedürftige und Menschen mit Immunschwächen eine Auffrischungsimpfung erhalten können. Eingesetzt werden sollen nur Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna.

Kommissionschef: politischer Druck ist „wenig hilfreich“

Mit ihrem Beschluß über die Impfung von Jugendlichen haben sich die Minister klar gegen die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) gestellt, die Impfungen für Kinder und Jugendliche derzeit nur bei besonderem Risiko empfiehlt, etwa bei Vorerkrankungen. Es gebe noch zu wenig Daten über mögliche Folgeschäden, begründete der Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens die Position des Expertengremiums. „Ich halte den politischen Druck für wenig hilfreich.“ Er stellte eine Neubewertung in den nächsten zehn Tagen in Aussicht. Im übrigen wirkten sich die Impfungen von Jugendlichen „nach allen mathematischen Modellen“ relativ gering auf den Pandemieverlauf aus.  Wichtiger sei, bei den 18- bis 59jährigen eine höhere Impfquote zu erreichen. In dieser Altersgruppe müßten mehr als 75 Prozent geimpft sein. 

Grundsätzliche Kritik an der Corona-Politik der Regierung formulierte Weltärztepräsident Frank Montgomery. „Wir haben keine vernünftigen Anreize für die Impfung. Wenn man nach wie vor als Freiheitsideal vorträgt, daß sich alle dem Druck der Ungeimpften unterwerfen und deren Einschränkungen mit hinnehmen müssen, solange wird das nichts.“ Frankreich habe dagegen bewiesen, daß es anders gehe. Dort hätten Geimpfte ihre verfassungsgarantierten Rechte zurückerhalten, während Ungeimpfte hierauf noch warten müßten. „Das ist in meinen Augen der richtige Weg.“

Die Politik reagierte mit zum Teil unmäßigen Attacken auf die Wissenschaft. Allen voran Deutschlands selbsternannter „Antreiber“, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der der „ehrenamtlichen Kommission“ indirekt mangelnde Professionalität vorwarf. Da fiel das Urteil des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach vergleichsweise milde aus, der der Stiko eine „Außenseiterposition“ bescheinigte. Nach Ansicht von AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen bahnt sich mit dem Beschluß der Gesundheitsminister eine faktische Impfpflicht für gesunde Kinder ab 12 Jahren an. Der Deutsche Hausärzteverband betonte, die Entscheidung der Politik klinge ein wenig nach „Wahlkampfgetöse“. Die 18 Stiko-Mitglieder werden für drei Jahre vom Bundesgesundheitsministerium besetzt und sind laut Geschäftsordnung „nur ihrem Gewissen verantwortlich und zur unparteiischen Erfüllung ihrer Aufgaben verpflichtet“.

Söders ungezügelte Ausfälle dürften in dem sich zuspitzenden Streit mit seinem Vize Hubert Aiwanger liegen, der sich derzeit nicht impfen lassen will. Er spricht von Impf-Nebenwirkungen bei denen ihm „die Spucke wegbleibt“. Dabei beschreibt er die Risiken mitunter plastisch. „Der eine kriegt eine Allergie, wenn er fünf Nüsse ißt, und dem anderen tun 50 Nüsse nichts. Jetzt kann ich nicht sagen, jeder muß zehn Nüsse essen, dann ist das gut. Für den einen ist es zu wenig, und der andere kriegt eine fette Allergie.“ Längst hat der Zwist zwischen dem Freie-Wähler-Chef und Söder persönliche Züge angenommen. Aiwanger rede wie AfD-Bundestags-Spitzenkandidatin Alice Weidel, sagte Söder, was seinen Stellvertreter wiederum empörte. („Unverschämtheit“). CSU-Fraktionschef Thomas Kreuzer legte Aiwanger bereits den Rücktritt nahe.

Die Kontroverse in Bayern hat einen bundespolitischen Aspekt, da Aiwanger seine Partei in den Bundestag führen will. Erstmals. Aiwanger schiele auf die Querdenker, die zuletzt am vergangenen Wochenende in Berlin für Aufregung gesorgt hatten, so der Vorwurf der CSU. In der Hauptstadt hatten trotz gerichtlicher Verbote mehrere tausend Demonstranten gegen die Corona-Einschränkungen der Bundesregierung protestiert. Es kam vereinzelt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, rund 1.000 Menschen wurden zumindest vorläufig festgenommen. Ein 48 Jahre alter Demonstrant, der während einer Identitätsfeststellung durch die Polizei einen Herzinfarkt erlitten hatte, starb trotz sofort eingeleiteter Reanimationsmaßnahmen im Krankenhaus. Laut Generalstaatsanwaltschaft war der Mann zuvor wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte vorläufig festgenommen worden. Die angeordnete Obduktion habe keine „Hinweise auf todesursächliche äußere Gewalteinwirkung im Rahmen der Festnahme“ ergeben, teilte die Behörde mit. Nach Angaben der Polizei wurden bei Einsätzen während der Demonstrationen 60 der 2.200 eingesetzten Beamten zum Teil schwer verletzt. 

Während Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) meinte, man könne „nicht erkennen, daß die Polizei nicht Herrin der Lage gewesen sei“, forderte der Fraktionschef der AfD im Berliner Abgeordnetenhaus, Georg Pazderski, eine umfassende Aufklärung. „Warum wurde bei Festnahmen vollkommen anders gehandelt als am 1. Mai oder beim CSD?“, so Pazderski in Anspielung auf die Homosexuellen-Parade eine Woche zuvor, bei der 65.000 Leute in der Hauptstadt zusammengekommen waren – und es ebenfalls massenhaft Verstöße gegen die Hygiene-Auflagen gab. Das sei ganz klar Messen mit zweierlei Maß. 

„Wir müssen und werden einen neuen Lockdown verhindern“

SPD-Bundestags-Fraktionsvize Dirk Wiese brachte indes ein Verbot der Querdenker-Bewegung ins Spiel. Die Bundesregierung nahm die Ereignisse am vergangenen Wochenende „mit großer Besorgnis wahr“, so die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer am Montag: „Gewalttätige Auseinandersetzungen und der Mißbrauch des Demonstrationsrechts sind nicht akzeptabel.“ 

Gegen die Kontroverse Politik versus Stiko konnten die Auseinandersetzungen über die Testpflicht für Urlaubsrückkehrer nur ein laues Lüftchen am Empörungshorizont entfachen. Seit vergangenem Sonntag wird auch an Autobahnen und Bundesstraßen stichprobenartig kontrolliert, ob Reisende ab zwölf Jahren eine Impfung nachweisen, genesen sind oder einen negativen Test vorweisen können. 

Als Nachweis gilt ein negativer Antigen- oder ein negativer PCR-Test. Eine solche Vorgabe gab es bisher nur für Flugpassagiere. Wer die Testpflicht mißachtet, muß mit empfindlichen Bußgeldern rechnen. FDP-Parteivize Wolfgang Kubicki: Es ist „wieder ein Baustein, der den Menschen Sorge und auch Angst machen soll“. Viele Deutsche haben wegen der kurzfristigen Anordnung vor ihrer Rückkehr gar keine Chance mehr gehabt, noch einen Test zu machen. Die Maßnahme sei „definitiv“ übertrieben, die Regierung überschreite ihre Kompetenzen.

Befürchtungen, im Herbst drohe wegen aktuell steigender Inzidenzzahlen ein neuer Lockdown, suchten einzelne Politiker zu zerstreuen. „Wir müssen und werden einen neuen Lockdown verhindern. Er wäre für viele Geschäfte und Restaurants, die bereits monatelang geschlossen waren, verheerend“, beruhigte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Die Intensivbetten-Kapazität in Deutschland sei weit von ihrer Auslastungsgrenze entfernt. 

SPD-Kanzlerkandidat Scholz antwortete auf die Frage nach einem Lockdown mit einem klaren „Nein“, appellierte aber mit Blick auf die Impfmüdigkeit an alle Bürger, sich impfen zu lassen. „Wir alle müssen unsere Freunde davon überzeugen, daß sie sich impfen lassen.“ Der Bundesfinanzminister sprach sich dafür aus, für Corona-Tests die Bürger zur Kasse zu bitten, die sich hätten impfen lassen können. Ausgenommen werden sollten Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können. 

Foot: Bundespolizist kontrolliert an der Grenze zu Österreich den Impfpaß: Reiserückkehrer müssen genesen, getestet oder geimpft sein