© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Volksvertreter ohne Raum
Paul Rosen

Seit Beginn der Corona-Pandemie laufen die Sitzungen des Deutschen Bundestages dergestalt ab, daß etwa die Hälfte der derzeit 709 Abgeordneten im Plenarsaal erscheint und die übrigen die Sitzungen vom Fernseher aus in ihren Büros verfolgen. Nur zu namentlichen und geheimen Abstimmungen kommen alle Abgeordneten zu den Urnen in das Reichstagsgebäude. Der breiten Öffentlichkeit dürfte diese Regelung gar nicht aufgefallen sein. Für die Fernsehzuschauer sind leere Bänke im Bundestag ohnehin mehr der Regelfall als Ausnahme.

In den Fraktionen und in der Bundestagsverwaltung ist man sich inzwischen aber sicher, daß die Abstandsregeln bei der ersten Sitzung des neuen Bundestages nach der Wahl am 26. September nicht einzuhalten sind. Gerade an der konstituierenden Sitzung wollten alle Abgeordneten teilnehmen, lautet die Einschätzung. Doch mehr als 340 Abgeordnete sind unter Einhaltung der Corona-Abstandsregelung von anderthalb Metern in dem historischen Gebäude nicht unterzubringen. Der Bundestag hat jedoch eine Mindestzahl von 598 Mitgliedern, und die derzeitige Größe von 709 Abgeordneten dürfte aufgrund von Überhang- und Ausgleichsmandaten im nächsten Bundestag vermutlich überschritten werden. Seinen unrühmlichen zweiten Platz unter den größten Parlamenten der Welt – nach dem chinesischen Volkskongreß mit 2.897, aber vor der Obersten Volksversammlung Nordkoreas mit 687 Mitgliedern – dürfte Berlin auf jeden Fall behalten.

Die Bundestagsverwaltung ist jetzt für die konstituierende Sitzung auf eine Lösung gekommen, die schon einmal erfolgreich ausprobiert worden ist. Als Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) im September 2019 als Verteidigungsministerin vereidigt wurde, stand der Plenarsaal im Reichstag wegen Bauarbeiten nicht zur Verfügung. Als Ausweichquartier wurde das hallenartige Atrium im Paul-Löbe-Haus genutzt (JF 32/19). In dem Gebäude tagen die Ausschüsse des Bundestages. Außerdem sind dort Ausschußsekretariate und Abgeordnetenbüros untergebracht.

Im Atrium ist Platz genug. Etwa dreihundert Abgeordnete – natürlich die prominenten aus den jeweiligen Fraktionen – sollen im Erdgeschoß untergebracht werden. Für die weiteren Abgeordneten können Plätze in den höheren Fluren eingerichtet werden, so daß diese Abgeordneten die Sitzung von oben verfolgen können. Da das Gebäude acht Geschosse hat, würde hier vielleicht sogar der chinesische Volkskongreß Platz finden.

Bei der einen Sitzung im Paul-Löbe-Haus dürfte es vermutlich nicht bleiben. Inzwischen wird davon ausgegangen, daß auch die Sitzung, auf der der neue Bundeskanzler gewählt wird, in diesem Provisorium stattfinden dürfte. Und die Bundesversammlung, die im nächsten Jahr den Bundespräsidenten zu wählen hat, und die aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleich hohen Zahl von Vertretern aus den Ländern besteht, wird wahrscheinlich ebenfalls im Paul-Löbe-Haus tagen müssen.