© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

Brüchiger Frieden
Tunesien: Nach dem Protest erscheint die Gesellschaft gespaltener denn je
Marc Zoellner

Gleich zwanzig Männer stürmten Yassine Ayaris Haus: „Sie haben ihn gewaltsam aus dem Haus gezerrt, während seine Mutter vor Angst schrie“, berichtete die Frau des bekannten tunesischen Bloggers und unabhängigen Parlamentariers später der Nachrichtenagentur Reuters. Die Männer, die in Zivil erschienen waren, hätten sich als Mitglieder der Sicherheitsgarde des Präsidenten vorgestellt und der Familie verboten, die Festnahme des 39jährigen zu filmen. Vorgehalten wurde diesem ein aus dem Jahr 2018 stammender Haftbefehl eines tunesischen Militärgerichts aufgrund Ayaris geübter Kritik am Militär in dessen Blog. 

Einem Staatsstreich gleichend, hatte Tunesiens Präsident Kais Saied am 25. Juli nach dem Notstandsparagraphen der tunesischen Verfassung die Befugnisse der Abgeordneten für dreißig Tage aufgehoben sowie Regierungschef Hichem Mechichi und mit ihm gleich eine ganze Riege wichtiger Minister aus dem Amt entlassen. 

Von einem „Putsch einer militärisch-populistischen Monarchie“ hatte Ayari infolge der Machtübernahme Saieds geschrieben; nur zwei Tage später wurde er abgeholt. Nicht als einziger Oppositioneller – noch am vergangenen Wochenende wurde ebenso die Verhaftung zweier Abgeordneter der einflußreichen salafistischen „Koalition der Würde“ (al-Karama) berichtet. Auch gegen die größte Parlamentspartei des Landes, die „Bewegung der Wiedergeburt“ (Ennahda), bestätigten Justizkreise, würde bereits wegen Korruptionsverdachts ermittelt.

Während der Amtszeit des damaligen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali im Frühjahr 1991 verboten, hatte die Ennahda-Bewegung zwanzig Jahre  im Untergrund wirken müssen, bis sie zur Revolution von 2011 wieder federführend mitwirken und sich im März 2011, nach dem Sturz Ben Alis, erneut legal aufstellen durfte. 

Ihren größten politischen Erfolg errang die Ennahda im Oktober 2011 zur Wahl der verfassungsgebenden Versammlung mit 37 Prozent aller Stimmen. Seitdem sank die Popularität der moderat-islamischen, der Moslembruderschaft nahestehenden Bewegung, von welcher sich mehrfach auch islamistische Gruppierungen abspalteten. Zur Parlamentswahl von 2019 kam Ennahda immerhin noch auf gut zwanzig Prozent aller Stimmen. Nach der Machtübernahme Saieds von vorvergangenem Wochenende gelang es der Bewegung, Tausende ihrer Anhänger zu Protesten und Sitzstreiks vor dem Parlamentsgebäude zu mobilisieren, die von Sicherheitskräften jedoch zum Teil gewaltsam aufgelöst wurden.

Coronavirus legt Tunesiens Wirtschaft lahm 

Tief gespalten zeigt sich die tunesische Zivilgesellschaft seitdem im Umgang mit der Absetzung ihrer Regierung. Im verhältnismäßig wohlhabenden Norden des Landes zogen Autokorsos hupend und feiernd durch die Straßen. Im bettelarmen Süden hingegen, der Hochburg moderat-islamischer bis radikal islamistischer Parteien, fürchten die Menschen um einen Rückfall der einzigen, vom „Arabischen Frühling“ in eine Demokratie umgestalteten Nation der Nahost- und Nordafrikaregion in die Diktatur. 

„Leute, die gegen den Präsidenten ihre Meinung erheben, werden eingesperrt und von Militärgerichten, nicht von Zivilgerichten, verurteilt“, berichtet Ennahda-Anhänger Ahmad, der eigentlich anders heißt und nahe der südtunesischen Stadt Kairouan, einem der wichtigsten Pilgerorte des Islam, als Künstler wirkt, der JUNGEN FREIHEIT. „Es sind Panzer und Soldaten auf den Straßen. Wir erhalten jeden Tag neue Drohnachrichten über Mobilfunk und die sozialen Netzwerke.“

Die Angst ist begründet: Nur einen Tag nach der präsidialen Machtübernahme stürmten bewaffnete Sicherheitskräfte das Büro des Nachrichtenmagazins Al-Jazeera in der Landeshauptstadt Tunis. Fast zeitgleich wurde auch New York Times-Reporterin Vivian Yee festgenommen. Der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, mahnte Tunesien daraufhin, „auf den demokratischen Weg“ zurückzukehren sowie rasch eine neue Regierung zu präsentieren sowie die baldige Rückkehr des gewählten Parlaments“ sicherzustellen. 

In Ägypten, welches vor acht Jahren einen ähnlich gearteten Coup gegen die damalige Regierung der Moslembruderschaft erlebte, feierte die weit verbreitete Tageszeitung Al-Ahram die Machtübernahme in Tunesien als „Verlust der letzten Hochburg der Moslembrüder in der Region“. Auch die dem Könighaus treue saudi-arabische Zeitung Okaz titelte anerkennend: „Tunesien erhebt sich gegen die Bruderschaft“.

Seit Beginn der Corona-Krise liegt Tunesiens Wirtschaft, die stark vom internationalen Tourismus abhängig ist, brach. Hinzu kommt seit Juni eine nahezu ungebremste Ausbreitung des Virus. Bei nur elf Millionen Einwohnern zählte der Mittelmeeranrainer im Juli täglich bis zu zehntausend Neuinfektionen sowie Hunderte Sterbefälle. Die Überlastung der Krankenhäuser des Landes hatte Präsident Saied als Motiv zur Entlassung von Regierungschef Mechichi genutzt, welchem auch von seiten großer Bevölkerungsteile Unfähigkeit zur Bewältigung der Krise vorgeworfen wurde. 

In öffentlichen Auftritten zumindest verspricht Saied eine baldige Wiederherstellung der demokratischen Strukturen Tunesiens im vorgegebenen Zeitrahmen: „In meinem Alter beginnt man keine Karriere mehr als Diktator“, beschwichtigte der 63jährige Verfassungsrechtler vergangenes Wochenende seine Anhänger mit Verweis auf ein berühmtes Zitat des französischen Staatsmannes Charles de Gaulle.