© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

„Unglaubliche Dummheit“
Deindustrialisierung: EU-Kommission verschärft Klimaziele mit dem Programm „Fit for 55“
Elias Huber

Ludger Ohm sieht das Programm „Fit for 55“ mit großer Skepsis, das die EU im Juli verkündet hat. Bis zum Jahr 2030 sollen die CO2-Emissionen um 55 Prozent sinken – im Vergleich zum Jahr 1990. Die Metallwerke Ohm & Häner im südwestfälischen Olpe-Friedrichsthal produzieren seit 60 Jahren Alugußteile für Auto- und Maschinenbauer. Besonders die für 2026 angekündigte CO2-Grenzabgabe (Carbon Border Adjustment Mechanism/CBAM) hält Ohm für einen „Bärendienst“, wie er im Handelsblatt erklärt.

Mit dem CBAM (JF 26/21) will die EU Produkte aus Ländern höher besteuern, die ihre Unternehmen nicht mit einer teuren „CO2-Bepreisung“ belasten. Ohm befürchtet deutliche Preissteigerungen, weil er Aluminium aus Ländern von außerhalb der EU importiert. „Die höheren Kosten müßten wir an unsere Kunden weitergeben. Das würde unsere Konkurrenzfähigkeit gegenüber ausländischen Anbietern weiter schwächen“, sagt er und fügt hinzu: „Die Klimamaßnahmen führen zu Deindustrialisierung statt Dekarbonisierung.“

Das sieht Eric Heymann ähnlich. Der Analyst von Deutsche Bank Research berichtet in einer Untersuchung vom Juni, daß der Kapitalstock in den energieintensiven Industrien seit zwei Jahrzehnten schrumpft. Hauptgrund sei nicht der absolute Strompreis. Dieser sei noch „recht niedrig“ wegen der besonderen Ausnahmeregelungen beim Erneuerbaren-Energien-Gesetz (EEG) und dem EU-Emissionshandel (ETS). „Wichtig ist vielmehr die Unsicherheit der Unternehmen, ob diese Sonderregelungen auch in fünf, zehn oder mehr Jahren noch gelten“, schreibt Heymann.

Produktionsanlagen rechneten sich in den Industrien, die viel Energie benötigten, oftmals erst nach Jahrzehnten. Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigten, daß das reale Nettoanlagevermögen zwischen 2000 und 2018 um zwölf Prozent im Bereich Chemie gesunken sei, um 19 Prozent in der Metallerzeugung, um knapp 39 Prozent in der Baustoffindustrie und um 44 Prozent bei den Papierherstellern. Pikant: Im Jahr 2000 wurde das EEG von der Schröder-Regierung verabschiedet und von den Merkel-Kabinetten ab 2005 verschärft.

Auch das Werk von Ludger Ohm leidet unter der „Energiewende“. Im Jahr 2006 entschied sich der Unternehmer, von fossilen Brennstoffen auf Strom umzustellen. Damals habe die Gießerei etwa 5,5 Cent pro Kilowattstunde gezahlt, berichtet Ohm. Heute sei der Preis etwa zehn Cent höher. Jährliche Zusatzkosten von 2,4 Millionen Euro entstünden dem Unternehmen aufgrund der EEG-Umlage, Kraft-Wärme-Kopplung, Durchleitung und Offshore-Abgabe – und das bei einem Umsatz von 80 Millionen Euro. Schon jetzt liege die Vorsteuerrendite bei drei Prozent. „Steigen die Stromkosten um weitere zehn Cent pro Kilowattstunde, rutschen wir in die roten Zahlen“, schätzt Ohm.

Ist eine „klimaneutrale Produktion“ überhaupt praktisch umsetzbar?

„Es ist eine unglaubliche Dummheit, hier die Axt anzulegen“, warnt denn auch Handelsblatt-Industrieexperte Klaus Stratmann. Denn der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung sei in Deutschland mit 23 Prozent so hoch wie nirgendwo sonst in Europa. Doch das EU-Programm „Fit for 55“ verlangt, die CO2-Obergrenzen im EU-Emissionshandelssystem bis 2030 noch drastischer zu senken, als das bislang geplant war.

Das dürfte die Preise von CO2-Zertifikaten weiter anheizen – sie stiegen zuletzt Hoch von über 50 Euro. Die kostenlosen Emissionszertifikate für die Luftfahrt wolle man schrittweise abschaffen und die Emissionen der Schiffahrt mit einbeziehen, heißt es in einer Mitteilung der EU. Dabei sanken die Emissionen in der Stromerzeugung und den energieintensiven Industrien in den vergangenen 16 Jahren um knapp 43 Prozent, gibt die EU zu.

Hinzu kommt nun noch die „grüne Inflation“. Es sei zu erwarten, daß der Preis für CO2-Emissionsrechte wegen „Fit for 55“ weiter anziehe, berichtet die Börsen-Zeitung unter Berufung auf Morgan Stanley. Der Analyst der Großbank Jacob Nell rechnet mit einer Verdopplung des Preises auf 100 Euro pro Tonne: Das würde „eine kumulative Auswirkung auf die Stromkosten der Haushalte von zwölf Prozent haben“. Die Gesamtinflation würde um 0,35 Prozent steigen, wenn die Statistiker Strom wie bisher zu drei Prozent im Warenkorb gewichteten. Nell geht allerdings davon aus, daß auf längere Sicht mehr Strom aus Wind und Sonne verfügbar sei. Doch der ist, anders als Atom-, Gas- oder Kohlestrom, nicht durchgehend verfügbar.

Vertreter der Stahlbranche zweifeln indes hinter vorgehaltener Hand, ob eine „klimaneutrale Produktion“ überhaupt umsetzbar ist. Selbst die „grüne“ Denkfabrik Agora Energiewende schätzt in der Studie „Klimaneutrale Industrie“, daß grüner Stahl mindestens 150 Euro pro Tonne teurer wäre als konventioneller Stahl. Bei einer durchschnittlichen Jahresproduktion von etwa 30 Millionen Tonnen Oxygenstahl und vollem Kostenausgleich bedeutete das Subventionen von 4,5 Milliarden Euro – pro Jahr und im günstigsten Fall, rechnet ein Branchenangehöriger vor. Dazu kämen die Kosten für die Umrüstung von Kohle-Hochöfen auf mit Wasserstoff betriebene Anlagen.

Laut einem Bericht der ARD-Tagesschau schätzt der Stahlkonzern Thyssenkrupp die Kosten auf zehn Milliarden Euro, der kleinere Hersteller Salzgitter auf drei Milliarden Euro. „Die Chinesen und Russen werden wohl bis auf weiteres mit Kohle produzieren“, stellt der Branchenangehörige resigniert fest. Auch einem Manager aus der Kunst­stoffindustrie schwant nichts Gutes. „Wir sehen im Konzern das Unheil leider mittel- bis langfristig auf uns zukommen.“ Und was wäre für das Weltklima gewonnen, wenn Deutschland bis 2045 – bei gleichzeitig steigender Weltbevölkerung – „klimaneutral“, aber deindustrialisiert wäre?

Die deutschen CO2-Emissionen liegen laut dem aktuellem EU-Report „Fossil CO2 emissions of all world countries“ bei 1,8 Prozent – das entspricht dem Niveau des Iran (1,8 Prozent), der ebenfalls 83 Millionen Einwohner hat. Südkorea (51,7 Millionen Einwohner) kommt auf 1,7 Prozent, Rußland (143 Millionen) auf 4,7 Prozent des globalen CO2-Ausstoßes. China sorgt für 30,3 Prozent der Emissionen – Tendenz steigend. Auf die USA mit ihren 331 Millionen Einwohnern entfallen 13,4 Prozent, auf die EU mit ihren 448 Millionen Einwohnern nur etwa 7,7 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Und US-Präsident Joe Biden hat schon – diplomatisch höflich – anklingen lassen, daß er von einer CO2-Grenzabgabe der EU nichts hält.

EU-Programm „Fit for 55“:  eur-lex.europa.eu

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